Benjamin von Stuckrad-Barre in der Kulturwerft Gollan, Foto: (c) Holger Kistenmacher

Benjamin von Stuckrad-Barre liest aus seinem Skandal-Buch „Noch wach?“ In Lübeck
Großes „Stucki“- Entertainment in der Gollan-Kulturwerft

Der Abend mit Lesung in der fast ausverkauften Gollan-Kulturwerft beginnt dramatisch mit Streichermusik. Dann tänzelt der Pop-Literat in Popstar-Pose unter der rockigen Hymne von Falco: „Out of the dark“ auf die Bühne.

Grinsend nimmt das „enfant terrible“ der deutschen Gegenwartsliteratur die Ovationen seiner Fans entgegen und haut gleich ein paar Witze raus: „Hoffentlich kommen heute viele Dicke mit Pullover, damit der Hall in dieser Halle nicht so hallt“. Er selbst im dünnen Streifen-Pulli müsse ja jetzt frieren und hoffe, dass sich niemand erkältet, denn die hätten ja schlechte Laune und „wir wollen uns doch alle einen schönen Abend machen“. Er sei also nach Lübeck gekommen, um ein bisschen aus seinem „Corona-Tagebuch“ zu lesen. So blödelt er sich durch die ersten Minuten und hat die Lacher auf seiner Seite. Es scheint ein sehr unterhaltsamer Abend zu werden.

Stuckrad-Barre hoppelt rum und wirkt nervös, raucht eine Zigarette nach der nächsten und trinkt dabei „Marlene-Dietrich-artig“ sein Ingwer-Wasser. Gleichzeitig lädt er alle Raucher zu sich auf die Bühne, seinen Aschenbecher zu teilen, weil natürlich in der Halle Rauchverbot sei, aber er auf der Bühne rauchen darf. Natürlich traut sich zunächst niemand.

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Also beginnt er zu lesen aus seinem Buch „Noch wach“, das momentan in aller Munde ist, weil es ganz augenscheinlich als „Schlüsselroman“ den Springer-Konzern aufs Korn nimmt. Was von ihm natürlich, aufgrund der drohenden juristischen Konsequenzen vehement abgewiesen wird. „Alles ist übrigens ausgedacht, anhand der Wirklichkeit frei erfunden“. Und natürlich sei er nicht der unbenannte Ich-Erzähler des Buches, der sei ja viel zu dumm! Gleichzeitig müsse er sich fast täglich mit schlimmen Telefonaten auseinandersetzen, denn die Ähnlichkeit zu Springer und dessen skandalösem ehemaligen Chef-Redakteur Julian Reichel, dem diverse junge Angestellte des Verlages, sexuelle Übergriffe unter Ausnutzung seiner Macht-Position vorwerfen, sind mehr als eindeutig. Auch sein ehemaliger Freund, der Vorstandsvorsitzende Döpfner, der gerade viel negative Aufmerksamkeit auf sich zieht, wegen unsäglicher Aussagen zu Ostdeutschen und Moslems, kriegt so richtig sein Fett weg. Aber das sei ja das „Dolle an Fiktion“, man kann sagen, was man will, ist ja alles von ihm erfunden und ausgedacht. Notfalls helfen ja auch Vokabeln wie „Vexierspiele“ oder „Verschränkungseffekte“ gibt der Autor zu Protokoll und will das als Tipps für die Zuschauer mit der Polizei verstanden wissen.

Natürlich hat er und sein Verlag sich aber auch ordentlich juristisch abgesichert. Schon im Vorwort steht, dass das Buch mit insgesamt 18 Kapiteln und Überschriften wie „Dann müssen sich die Frauen nicht wundern“ oder „Jetzt wird’s schmutzig“ zwar in Teilen inspiriert von verschiedenen realen Ereignissen sei, jedoch eine davon losgelöste und unabhängige fiktionale Geschichte ist. Der Autor habe „ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen“. Das nimmt ihm natürlich in Lübeck keiner ab und lacht mit ihm über diesen eindeutigen Schelmenstreich.

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Brisant ist auf jeden Fall, dass Stuckrad-Barre mehrere Jahre für den Springer-Konzern gearbeitet hat und dementsprechend intensive Einblicke hinter die Kulissen des Konzerns gewinnen konnte. Gleichzeitig verband ihn eine innige Freundschaft mit dem Springer-Chef Matthias Döpfner, bei dem er den Pausen-Clown spielen durfte wie im Roman, oder den er häufig auf Reisen ins Silicon-Valley begleiten durfte. All das kommt natürlich auf unglaublich komische Weise auch im Roman vor.

Dieser spielt sowohl in Deutschland als auch in Kalifornien, wo schon sein Udo Lindenberg-Buch stattfand. Das berühmte Hotel Chateau Marmont (natürlich auch erfunden!) steht wieder im Mittelpunkt, während die Harvey Weinstein-Affäre dafür sorgte, dass die „me-too“-Bewegung entstand.
Gleich am gleichen Abend, etwas später in der Böhmermann-Show kann man dann erfahren, dass der Springer-Konzern, trotz der offensichtlichen Anschuldigungen nicht die besten und teuersten Anwälte der Welt aufbietet, um gegen das Buch vorzugehen.

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Wie selbst Stuckrad-Barre im Buch beschreibt, gab es eine skurrile Begebenheit mit ihm, Döpfner und Elon Musk, bei der der Konzernchef unbedingt bewegte Bilder von seinem amerikanischen Freund mit seinem Handy aufnehmen wollte, aber an der Technik scheiterte. Elon Musk, „der von hiesigen Würdenträgern für das leibhaftige Internet gehalten wird“, wusste Rat, wischte eine Weile auf dem Handy rum und verlangte das Passwort von Döpfner, das dann auf dem Handy von Stuckrad-Barre transferiert wurde und mit dem er sämtliche Accounts von Döpfner öffnen kann. Dann klappte es mit dem Filmchen und der Autor hat nach wie vor Zugang zu den Daten von Döpfner. „Mein Freund tippte sein Passwort ein, und tatsächlich, es funktionierte, jetzt stand also sein Name im Profil, und wir konnten zwar von meinem Handy, aber von seinem Account aus: LIVE GEHEN“: Wer weiss, was der Autor da, selbst nach der Beendigung der Freundschaft zwischen den beiden Männern, noch so alles an fragwürdigen Aussagen und Informationen von und über Döpfner und den Springer-Konzern herausfiltern konnte. Kein Wunder also, dass der Milliarden-schwere Konzern und sein Chef momentan juristisch die Füße stillhalten, um nicht noch mehr Schaden anzurichten.

Stuckrad-Barre liest einzelne Kapitel, dann albert er wieder mit dem Publikum rum und unterhält alle bestens. Es folgen Aussagen wie „Gute Leute sterben, während Arschgeigen länger leben“, dabei zwirbelt er mit der Zigarette zwischen seinen dünnen Fingern und kokettiert mit seinen früheren(?) Suchtproblemen.

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Ein wahrer Running Gag stellt sein Lesetermin in Ingolstadt dar. Immer wieder wird die bayrische Stadt, die keiner kennt oder kennen will, durch den Kakao gezogen, weil dort angeblich nur 35 Fans seine Lesung sehen wollten. „Helmut Dietl-artig wird die Stadt aus Facharbeiter-Elend der großartigen Geisterstadt Lübeck“ gegenübergestellt. Dazu traut sich dann endlich ein Alex zu ihm auf die Bühne zum Rauchen. Es stellt sich raus, dass dieser bei Pro 7 arbeitet, und der Autor wanzt sich gleich ran, um da irgendwie rein zu kommen. Ob der Alex da nicht was machen kann? Sie scherzen über leises Wasser, das Stuckrad-Barre dem Alex anbietet, aber dieser ablehnt, „weil darin Fische ficken“, was natürlich geklaut und ein ziemlich alter Witz ist, aber trotzdem lachen alle.

Dann wird wieder ausgiebig gelesen aus dem Roman. Das Buch bezeichnet er als “handlichen Brandsatz“. So liest und labert sich der Autor durch den Abend und unterhält sich und sein Publikum aufs Beste. Gegen Ende stellt er sich noch als armer Freiberufler dar, der alles machen würde, um zu überleben. Er kündigt seine Signierrunde an, wo er alles auf Verlangen schreiben würde. „Ist ja auch schon bald wieder Weihnachten“. Dabei scheut er sich nicht, sich als Literatur-Hure zu generieren, die alles für Geld macht. Dann ist Schluss nach gut zweieinhalb Stunden bester Performance und die Schlange vor dem Signiertisch wird länger und länger.

Fazit: Ein frecher, unterhaltsamer Abend mit einer Lesung eines herausragenden Buches, welches sofort den Spitzenplatz in der Bestseller-Liste erobert hat. Ein Sittengemälde unserer Zeit, wie der Verlag verheißt. Aber auch ein Roman voller brisanter Erkenntnisse, literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt, über Machtstrukturen und deren Missbrauch, Mut und menschliche Abgründe. Alles natürlich in dieser typischen Popart voller Amerikanismen und schnodderigen Sprüche geschrieben und außerordentlich lesenswert.

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Natürlich muss man sagen, dass sich der Verlag und auch der Autor sagenhaft vermarkten, mit extremen Geheimhaltung-Gehabe im Vorfeld der Veröffentlichung, clever eingestreuten kleinen Häppchen für die Medien und lancierten Interviews für ausgewählte Zeitungen. Passend dazu gab es natürlich durch die „Zeit“ geleakte Infos zu den unsäglichen Aussagen von Döpfner, deren Quellen unklar blieben und ein wahres Gerüchte-Gewitter im Umfeld des Romans und seines Autors. Trotz alledem eine eindeutige Leseempfehlung, meint Holger Kistenmacher.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach?, Kiepenheuer&Witsch, 19. April 2023, Köln, 375 Seiten, Amazon.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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