Ulrike Sterblich, Foto: (c) Dorothea Tuch

Literaturtipps
Neue Bücher für Nochwinter- oder Vorfrühlingstage

Das Wetter kann sich mal wieder nicht entscheiden. Rein kalendarisch sollte noch tiefster Winter sein, aber draußen scheint schon manchmal die Sonne und es sprießen die ersten Blümchen. Aber so richtig Frühling will es auch noch nicht werden. Der Himmel ist oft trüb und grau, Nieselregen der fiesen Art verleidet den Spaziergang an der leidlich frischen Luft. Also doch lieber auf das Sofa und die besten Romane und Bücher lesen, die das vergangene Jahr so hergibt.

Dafür habe ich zwei Bücher ausgewählt, die auf der Liste für den Deutschen Buchpreis 2023 standen, wobei eines sogar den Siegertitel einspielte. Und dazu ein Debüt aus der arabischen Welt, das als vergnügliches feministisches Märchen daher kommt.

Fangen wir einmal an mit dem Gewinner des Deutschen Buchpreis 2023: Tonio Schachinger. Der österreichische Autor, 1992 in New Delhi geboren und in Wien lebend, war bereits mit seinem Erstlingswerk, „Nicht wie ihr“ 2019 auf der Shortlist nominiert. Jetzt im letzten Jahr konnte er den begehrten Buchpreis mit seinem zweiten Roman, „Echtzeitalter“ tatsächlich gewinnen. In diesem Gegenwartsroman erzählt er eine fast schon klassisch zu nennende Coming-Of-Age-Geschichte, die wohl sehr an seiner eigenen Schulgeschichte orientiert ist. Stilistisch fein und pointenreich beschreibt er, wie der junge Till seine Internatszeit in dem elitären Wiener Internat Marianum, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, welches unschwer als Theresianeum zu erkennen ist, wo der Autor selbst zur Schule ging, er- und überlebt hat.

„Es war die Hölle, du Idiot“ fasst Till Kokordas diese acht Jahre zusammen. Der anfangs noch kleine, rothaarige Junge wird dort wie die anderen Kinder der besseren Gesellschaft unterrichtet, gedrillt und gequält. Sie sind mit ihrer Klasse dem despotischen, wie Lord Voldemort agierenden Klassenvorstand Dolinar ausgesetzt, ein erzkonservativer Lehrer, der mehr Wert auf klassische Literatur und Französischkenntnisse legt, als junge Seelen auf die Zukunft vorzubereiten. Strafen, Angst und Demütigungen bestimmen den Alltag der Klasse. Dieser „Lord Voldemort im Lodenmantel“ versucht, die Schüler mit seinem Psychoterror zu brechen, denn nur „wer ihn aushält, ist würdig, sich Absolvent des Marianum“ zu nennen.

Till wählt einen anderen Weg, die Flucht ins Gaming, vor allem in das PC-Spiel „Age of Empires 2“, in dem er bald zu den zehn weltbesten Spielern aufsteigt. Das Gamen ist für Till das Ventil, um den Druck seines Lebens ohne Vater und in einer Schulwelt hinter Mauern zu ertragen. Gleich zu Beginn seiner Internatszeit erkennt der 10jährige, was andere erst mit 14 oder 15 klar werden wird: Sie sind eingesperrt auf einem Anwesen mit schönbrunngelber Fassade und Park mit Wiesen und Sportplätzen, und dass die Mauer dabei eine sehr pragmatische Rolle spielt. Eine noch größere Rolle spielen aber die Mauern im Kopf und Herz der Kinder, die Bruno Dollinger, ein Sadist mit psychopathischen Zügen aufbaut. Warum seine Schüler die bravsten im Marianum sind, interessiert niemanden, denn „die meisten spüren kein Mitleid mit Kindern, die schon mit elf wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen können, und das auch zeigen, wenn sie die Chance dazu bekommen, die unglaublich herablassend und brutal sein können“.

Till selbst, der weder finanziell noch aufgrund seines Aussehens oder Ausstrahlung zu den angesagten Kids gehört, sucht sein Heil in der Welt von „Age of Empires“ - vor allem nach der Scheidung seiner Eltern und dem Tod des Vaters. In seiner knappen Freizeit und in den Ferien lebt er eine parallele Superheldenexistenz im Netz. Nur seine beiden Freundinnen Feli und Fira, die auf ihre Weise gegen die Schul-Konventionen rebellieren, weiht er ein. Den Konflikt auch zwischen den Generationen erzählt Schachinger in einer humorvollen, jugendlichen Sprache als einen zwischen analoger und digitaler Welt. So lässt er seine Mutter nach einem Schnupperkurs im Gamen selbst Feuer fangen. Sie räumt Peter Esterhazy und Orhan Pamuk - mitsamt der Staubschicht, die sich auf den Büchern angesammelt hat - vom Nachttisch und kuriert mit dem Handy-Spiel „Candy Crush“ ihre Schlafstörungen.

Draußen in der realen Welt stellt die Ibiza-Affäre den österreichischen Politikbetrieb auf den Kopf, bis die Corona-Pandemie schließlich alles lahmlegt. Diese Zeit nutzt Till, seine Fähigkeiten als Gamer bei einem Wettbewerb in Shanghai unter Beweis zu stellen. Damit überlistet er nicht nur die autoritären Strukturen der Schule und seiner unsäglichen Lehrer und Konventionen und wird nebenbei erwachsen. Tonio Schachinger beweist erneut, dass er ein grandioser Geschichtenerzähler ist, der im Hier und Jetzt mit einer voller Humor ohne Eitelkeiten daherkommenden Sprache das Leben der jungen Generation spiegeln kann. Er spricht die Sprache der Zeit und schafft damit einen Gegenwartsroman, der sehr einfühlsam junge Menschen des 21. Jahrhunderts witzig und fein beobachtet analysiert.

Tonio Schachinger: Echtzeitalter, Rowohlt-Verlag, Hamburg, 2023, 365 Seiten, 24 Euro.

Mein zweiter Buchtipp gehörte ebenfalls zu den Nominierten für den Deutschen Buchpreis und erzählt auch eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Allerdings handelt es sich bei dem Roman von Ulrike Sterblich (Künstlername) aus Berlin: „Drifter“ um eine durchgeknallte Story voller Schwindeleien, Erfindungen und Fantastereien. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die beiden Freunde Wenzel und Killer, die sich seit frühester Kindheit kennen und gemeinsam aufgewachsen sind in einem Hochhaus irgendwo am Stadtrand. Während Killer der Typ auf der Überholspur war, dem die Frauen reihenweise zu Füssen lagen und der gerade zum PR-Chef eines Lebensmittelgiganten aufgestiegen war, wurstelte sich Wenzel so durchs Leben.

Seine eingebildete Freundin hatte sich gerade für den attraktiven Ski-Rennläufer entschieden, und sein Job als Mitarbeiter im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, wo er sich mit den Schimpf- und Hasstiraden von wütenden Social-Media-Nutzern auseinandersetzen muss, war auch der reine Frust-Job. „Ich schaffte es, mich an jenen Ort zu manövrieren, wo man bei minderer Bezahlung einem schleichenden Menschenhass entwickeln und sonst nicht viel bewegen kann“.

Da ist es gut, daß die beiden Großstädter trotz aller Gegensätze beste Freunde sind, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit hervorragend ergänzen: der belesene Melancholiker Wenzel und der gesellige Draufgänger Killer. Alles ändert sich, als die beiden bei einem Besuch auf der Pferde-Rennbahn stark alkoholisiert in ein derbes Gewitter geraten. Killer, der gerade zu Fuß auf der Bahn galoppiert, wird vom Blitz getroffen und durch die Luft geworfen. Er kommt zwar mit nur äußerlichen Blessuren davon, ist aber danach mental nicht mehr derselbe. Er philosophiert, hört seltsame Geräusche und kündigt seinen lukrativen Job. Dann zieht er sogar in das Hochhaus seiner Kindheit zurück, um sich um seine kranke Mutter zukommen, aber auch um sich zurückzuziehen. „So, dachte ich, jetzt ist es amtlich: Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert“.

Danach wird es immer skurriler. Wenzel, dessen Lieblingsautor „Drifter“ heißt, trifft auf eine Aufsehen erregende Frau in einem Goldkleid, die scheinbar ein neues Buch seines geliebten Schriftstellers mit dem Titel „Elektrokröte“ dabei hat. Die seltsame Fremde entpuppt sich als erfolgreiche Social-Media-Entertainerin, die schräge Videos ins Netz stellt, aber auch Finanztipps unters Volk bringt, zaubert und ihren riesigen Hund tanzen lässt. Auch in der Buchbranche mischt sie mit. Als die ominöse Gräfin oder wer auch immer sie ist, sich dann im gleichen Hochhaus wie Killer einnistet und gleich eine ganze Etage in Beschlag nimmt, beginnt die dystopische Geschichte richtig an Fahrt auf zu nehmen.

Leichtfüssig und voller abgedrehter Fantasie mischt Ulrike Sterblich magischen Realismus mit einer Karikatur unserer Gegenwart. Abgefahrene Charaktere, tanzende Tiere, kafkaeske Gebäude und andere Absonderlichkeiten treffen auf einen Alltag aus sinnfreien Teambuilding-Maßnahmen, einsamen Homeoffice und einer entfesselten, unzähmbaren Empörungsgesellschaft. Killer bringt es auf den Punkt: „Kilometerhoch übereinandergeschichtete Bullshitsedimente“. Gleichzeitig verschafft sie Wenzel einen bestens bezahlten easy Job. Und ein richtig platzierter Börsen-Tipp verschafft ihm und vielen der Hochhaus-Bewohner richtig viel Geld. Woraufhin die Dame und ihre schräge Entourage entschwindet.

Virtuos und voller Witz schreibt sich Sterblich durch die verrücktesten Episoden des Buches. Dabei karikiert sie eine wildgewordene Kultur- und Medienszene, und das alles in einer Jugendsprache, die an „Tschick“ oder „Fänger im Roggen“ erinnert. Aber gleichzeitig deutet sie an, dass Freundschaft sogar noch größer und bedeutender als Liebe ist. Ein Roman für alle Generationen, der einfach Spass macht zu lesen!

Ulrike Sterblich: Drifter, Ullstein-Verlag, Hamburg, 2023, 288 Seiten, 23 Euro.

Kommen wir jetzt einmal zu etwas gänzlich anderem, nämlich dem überraschenden, bitteren, aber trotzdem sehr witzigen Erstlingsroman der marokkanischen Autorin Meryem Alaoui: „Pferdemund tut Wahrheit kund“. Die Geschichte dreht sich um die Sexarbeiterin Dschmiaa, die in Casablanca ihren Körper für wenig Geld verkauft. Ihr normaler Tarif beläuft sich auf 1000 bis 1600 marokkanische Rial, was umgerechnet zwischen vier und sieben Euro liegt. Trotz regelmäßigem Verkehr gehört die Prostituierte und Mutter eines Kindes zur untersten Schicht und lebt in Armut. Trotzdem hat sie Träume, die aber meist nur beim stundenlangen Glotzen von Soaps und anderen Programmen aus einer fremden, luxuriöseren Welt hinein in ihr bescheidenes Zimmer per Flimmerkiste gelangen.

Meryem Alaoui, die ebenfalls aus Casablanca stammt, (geboren 1975), lässt ihre Protagonistin in teilweise recht derber Sprache aus ihrem Alltag berichten. Obwohl die Schriftstellerin selbst aus einem absolut gegensätzlichen Haushalt vom anderen Ende der sozialen Leiter stammt, mit einem Vater, der als Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Karriere machte und später diverse Ministerposten besetzte, kennt sie das Leben aus dem Viertel von Dschmiaa sehr gut. Denn in ihrer Zeit als Sozialwissenschaftlerin und kritische Journalistin war sie viel in dem Quartier, wo Frauen gezwungen sind, sich zu prostituieren. „Achtzig Prozent dessen, was ich schreibe, sind Dinge, die ich erlebt, die ich gesehen habe. Es geht um mein Quartier, ich bin dort viel unterwegs, mein Gehirn registriert alles. Ich habe mich für die Frauen interessiert, bin ihnen nachgegangen, habe ihren Gesprächen gelauscht“.

So entspricht Alaouis Protagonistin in keinster Weise dem gewohnten Bild der Hure mit großem Herzen. Im Gegenteil. Als ihr Zuhälter sie auffordert, eine gestrauchelte und eben erst aus dem Gefängnis entlassene Frau aufzunehmen und ins Gewerbe einzuführen, hat sie nur Verachtung übrig für das verhuschte Wesen, mit dem sie Zimmer und ihr Wissen teilen soll. Aus Angst vor harten Schlägen des Zuhälters lässt sie sich darauf ein, aber ihr Know-How will sie auf gar keinen Fall teilen: „Ich habe Jahre gebraucht, um mir mein Wissen anzueignen, da werfe ich einer Anfängernutte nicht einfach alles hinterher“.

Und dass sie mit Freiern umgehen kann, beschreibt sie des öfteren in ihrer frechen, ruppigen Sprache, zum Beispiel, wenn sie sich mit Buschaib, einem ihrer Stamm-Freier einlässt. „Ich setze mein breites Lächeln auf, trete zu ihm und frage: „Na juckt es dich hier?“, und streiche zärtlich über den Buckel in seiner Hose. Wobei, das war kein Buckel, das war ein Gebirge. Wir gehen ins Schlafzimmer. …Sein Lächeln unter dem Schnurrbart zieht sich jetzt bis hinter die Ohren. Er ist schon richtig scharf. „Ich hab dir gefehlt, hm?“, sagt er. Aber Buschaib will gar nicht, dass ich antworte. Er mag es, wenn ich Laute von mir gebe. Statt etwas zu sagen, werde ich jetzt einen auf kalbende Kuh machen. Das mag er. „Mmmmmmmuuh“. „Iah, Iah“, antwortet er. Buschaib hat soeben gebrüllt wie ein Esel.“

Die Autorin erzählt Dschmiaas Vorgeschichte sehr hart und ohne Weichzeichner. Sie lässt aber erkennen, dass sich Dschmiaa als ruppige Kämpferin mit Wehrhaftigkeit erweist. Bewußt verzichtet sie bei ihrer Arbeit auf Körperhygiene, um sich an ihren Beischläfern zu rächen. Als ihre Ehe zerbricht, kurz nachdem sie auch noch schwanger wurde, zeigt sich, wie sehr ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin, Spuren hinterlassen hat. Sie kann die Tochter nicht lieben, weder stillen noch Windeln wechseln, geschweige denn küssen.

Das Leben von Dschmiaa ändert sich, als sie eine angehende Regisseurin, die sie aufgrund ihrer großen Zähne nur „Pferdemaul“ nennt, kennenlernt. Die möchte einen Film über das harte Leben von Sexarbeiterinnen aus Casablanca drehen und braucht dafür jemanden, der die dreckigen Seiten der Stadt kennt. Dafür soll es sogar ein Honorar geben. Chadlia, wie die Regisseurin eigentlich heißt, macht dann aber etwas Märchenhaftes, indem sie die Erzählerin zur Hauptdarstellerin ihres Filmes macht. Zwei Jahre später findet sich Dschmiaa in einem Flugzeug wieder, das sie nach Los Angeles fliegen wird, wo der fertige Film auf einem Festival gezeigt werden soll. Aber trotz all dem Luxus, Glanz und Reichtums Amerikas lässt sich Dschmiaa nicht blenden. Im Vergleich mit ihren eigenen Landsleuten kommen ihr die Amerikaner eher geistig minderbemittelt vor. „Wir haben zwar kein Geld, dafür Köpfchen. Sie haben alles, was sie brauchen, und wissen nichts damit anzufangen“.

Trotz allem entwickelt sich die ganze Geschichte dann doch noch zu einem feministischen Märchen. Denn die harte Prostituierte wird in den USA als Schauspielerin entdeckt und findet sogar eine neue Liebe, aber das sollten Sie lieber selber lesen, es lohnt sich.

Meryem Alaoui: Pferdemund tut Wahrheit kund, Lenos Verlag, Basel 2023, 312 Seiten, 26 Euro.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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