Gedenktafel für Henri Bergson, 47 Boulevard de Beauséjour, Paris

Sicher mehr als ein geistreicher Kalligraph
Der große französische Philosoph Henri Bergson

Ist Henri Bergson vergessen? Der französische Autor lebte von 1859 – 1941 und erhielt 1927 den Nobelpreis für Literatur – als einer der ganz wenigen Philosophen.

Unter seinen Kollegen mag dieser Preis seiner Reputation mehr geschadet als genützt haben, denn in der Philosophie ist es nicht unbedingt respektabel, von anderen als wenigen Eingeweihten gelesen zu werden. Dabei zählen so erlesene Namen wie Max Scheler, Georg Simmel, William James oder Alfred North Whitehead zu seinen Bewunderern – das zeigt, dass er ein ganz Großer gewesen sein muss.

Gleichwohl war Bergsons Einfluss eher untergründig und wurde und wird auch nicht immer zugegeben; der Lebensphilosoph Ludwig Klages zum Beispiel, der ihm wohl mehr als nur einige wenige Anregungen zu verdanken hat, äußert sich sehr herablassend über den Kollegen, wenn er von Bergsons „geistreicher Kalligraphie“ spricht und ihn als einen opportunistischen Modephilosophen hinstellt, „dessen zeitkluge Beweglichkeit man im übrigen nicht überschätzen sollte“.

In den letzten Jahren brachte der Felix Meiner-Verlag Neuausgaben der beiden Hauptwerke Henri Bergsons heraus, Schöpferische Evolution und Materie und Gedächtnis. Mit Zeit und Freiheit wird die Bergson-Reihe im Rahmen der Philosophischen Bibliothek jetzt fortgesetzt: ein klassischer Text in einer sorgfältigen Edition zu einem vertretbaren Preis.

Zeit und Freiheit ist die Dissertation Bergsons, die er 1889 als dreißigjähriger Lehrer vorlegte, um die Voraussetzungen für eine Universitätskarriere zu schaffen. Im Kern enthält sie bereits die Grundelemente seiner Philosophie und stellt damit so etwas wie das Begründungsdokument der Lebensphilosophie überhaupt dar. Es ist kein ganz einfaches, aber sehr klar und stringent argumentierendes Buch über eine sehr wichtige Thematik. Die zweifellos vorhandenen Schwierigkeiten gründen nicht etwa in einem philosophiegeschichtlichen Vorwissen, das dem Leser abverlangt wird, auch nicht in einer komplizierten Terminologie, die häufiges Nachschlagen erforderte, sondern allein in einer akkuraten, vielschrittigen und subtilen Argumentation. So erfordert die Lektüre jederzeit Konzentration und Geduld.

Die Untersuchung ist sehr alt, aber in einem gewissen Sinne aktuell ist sie trotzdem, denn wie es die Jahrzehnte am Ausgang des 19. Jahrhunderts waren, so ist auch die heutige Zeit sehr stark von einer vulgärmaterialistischen Argumentation bestimmt, die von Bergson grandios widerlegt wird. Er zeigt, warum es nicht möglich ist, das Kausalitätsverständnis, das so schön auf die unbelebte Natur passt, einfach auf psychische Verhältnisse zu übertragen, wie es heute wie damals von übereifrigen Hirnforschern vorgeführt wird, die mit leichter Hand die Freiheit des Menschen widerlegen zu können glauben.

Die unbelebte Natur ist in der Terminologie Bergsons der Raum, als das Fundament der Freiheit wird dagegen die Dauer angesehen, also die ungegliederte, sich jeder Messung entziehende Zeit, wie sie ein Bewusstsein erlebt. Aber eigentlich ist die Dauer noch mehr als das Erleben der Zeit, denn im Grunde ist sie das Leben selbst. Sie lässt sich nicht mit der Uhr messen und entzieht sich damit einem Zugriff, wie ihn der deutsche Psychophysiker Gustav Theodor Fechner einige Jahre vor Bergson versucht hat: „Hat die Vielheit unserer Bewußtseinszustände“, fragt Bergson mit Blick auf Fechner rhetorisch, „die mindeste Analogie mit der Vielheit der Einheiten einer Zahl? Hat die wahre Dauer den mindesten Bezug zum Raum?“ Die Antwort lautet natürlich: Nein. Mit den Mitteln der Naturwissenschaft wird man niemals das Bewusstsein ergründen können.

Wenn wir von Zeit sprechen, dann meinen wir damit die Veränderungen (das Nacheinander) im Raum. So bildet sich die „Mischidee einer meßbaren Zeit, die als Homogenität Raum ist und als Nacheinander Dauer“. Mit diesem verwirrenden Vorgang, aus dem so viele Missverständnisse erwachsen, beschäftigt sich die Untersuchung exzessiv.

Henri BergsonHenri BergsonEs geht Henri Bergson letztlich um die Freiheit, darum, sich materialistischen Zumutungen zu entziehen und zu demonstrieren, dass das Leben selbst und noch mehr unser Denken anderen Gesetzen unterworfen ist als die leblose Natur. „Wenn man übereinkommt, als frei jeden Akt zu bezeichnen, der aus dem Ich, und nur aus dem Ich, emaniert (= hervorgeht), dann ist der Akt, der das Signum unserer Person trägt, wahrhaft frei, da unser Ich allein Anspruch auf die Vaterschaft erheben wird. Auf diese Weise fände sich die These der Freiheit verifiziert, wenn man einwilligen würde, diese Freiheit nur in einem bestimmten Charakter der getroffenen Entscheidung zu suchen, mit einem Wort: im freien Akt.“

Dem Text der Abhandlung vorangestellt ist eine Einführung durch den französischen Philosophen Rémi Brague, einem ausgewiesenen Bergson-Kenner, und am Ende findet sich ein Nachwort der Übersetzerin Margarethe Drewsen, in dem sie ihre terminologischen Entscheidungen im Einzelnen begründet. Aber auch schon zuvor hat sie sich immer wieder in Fußnoten zu Übersetzungsproblemen geäußert. In einem Fall – einem von Bergson etwas abgekürzt zitierten Satz John Stuart Mills – zitiert sie Mill ausführlich im englischen Original und gibt dem dankbaren Leser damit alles in die Hand, den Text richtig zu verstehen.

Eine ganz ausgezeichnete, uneingeschränkt empfehlenswerte Edition.

Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene. Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Felix Meiner 2016, XXV und 230 Seiten.

Henri Bergson: Schöpferische Evolution. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Mit einer Einleitung von Rémi Brague. Felix Meiner 2014, L und 428 Seiten.

Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Neu aus dem Französischen übersetzt von Margarethe Drewsen. Felix Meiner 2015, 320 Seiten.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Fotos:
1) Gedenktafel, 47 Boulevard de Beauséjour, Paris, Wikimedia
2) Buchcover, Felix Meiner-Verlag
3) Henri Bergson, Wikimedia

Stefan Diebitz
Stefan Diebitz
Stefan Diebitz, geboren 1957, freier Autor. Feuilletonistische und wissenschaftliche Arbeiten (Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunst- und Kulturgeschichte), dazu vier Bücher: Seelenkleid. Beiträge zur Phänomenologie und Theorie von Angst und Scham (LIT-Verlag 2005); Glanz und Elend der Philosophie (Verlag der blaue Reiter 2007); Spiel und Widerspiel. Der Mensch in seiner Natur (Verlag der blaue Reiter 2009); Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks (Graue Edition 2012)

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