Noah Schaul (Basilio), Jacob Scharfman (Graf Almaviva), Florian Götz (Figaro)

Premiere im Theater Lübeck
Wie Figaro in Lübeck Hochzeit feiert - oder auch nicht

Die neueste Aufführung von Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“ (Premiere: 27. Januar 2023) macht einfach Spaß. Es ist ein Erlebnis für beides, für das Ohr und für das Auge, wobei der Verstand bei diesem überdrehten Sujet lieber zu Hause bleibt.

Die Musiker im Graben unter Leitung von Stefan Vladar spielen ungemein locker und durchsichtig, lassen die Leichtigkeit und auch den Ernst von Mozarts Musik in Dynamik und Agogik bewundernswert erkennen. Sie stützen die Sänger auf der Bühne, auch den Chor, so dass beide ideal besetzt wirken, selbst die kleineren Rollen. Man nimmt jedem die Nähe zu seiner Gestalt ab. Auch die Inszenierung mitsamt der Kostüme macht viel her. Die Furcht im Vorwege, geschürt von Lübecks Tageszeitung, dass die Oper eine „über Macht und Machtmissbrauch“ sei, verfliegt sehr schnell. Weder Almavivas sexuelle Umtriebigkeit noch Cherubinos militärische Konfiskation werden politisch oder pazifistisch ausgeschlachtet. Sehr angenehm ist dieser Abstand von jedem Regietheater, dennoch ist die Inszenierung eigenständig und macht es dem Kopf leicht, eine Beziehung zum Hier und Jetzt herzustellen.

Laila Salome Fischer (Cherubino), Jacob Scharfman (Graf Almaviva), Florian Götz (Figaro)Laila Salome Fischer (Cherubino), Jacob Scharfman (Graf Almaviva), Florian Götz (Figaro)

Alles, was auf der Bühne sich ereignet, steht in der Partitur oder im Libretto. Auch wenn man weiß, dass Mozart und Lorenzo Da Ponte, noch mehr Pierre Augustin Caron de Beaumarchais schon zu ihren Lebenszeiten Zensur-Probleme hatten. Aber des letzteren bemerkenswert abenteuerliches Leben hatte ihn nicht gehindert, der Nachwelt Stoffe für allerlei Werke zu schenken. Seit langem bewundert ist seine „Trilogie espagnole“, deren ersten Teil, „Le barbier de Séville“, Rossini vertonte und den zweiten, „Le mariage de Figaro“, Mozart, beide mit eigenen Librettisten. Der dritte Teil, „La mère coupable“ , harrt nicht auf eine literarische oder musikalische Verarbeitung, es gibt sie schon. Eine Opernfassung hat Darius Milhaud 1966 für Genf geschaffen, die wohl letzte Elena Langer 2016 für Cardiff.

Literarisch wichtig ist Ödön von Horvarths komödiantische Aneignung unter dem Titel „Figaro lässt sich scheiden“, 1937 in Prag uraufgeführt. Ironische Hinweise allerdings auf die Politik der Zeit missfielen den Nazis. Ein Verbot folgte, und Horvarths Emigration. Es zeigt Graf und Gräfin Almaviva mitsamt Figaro und Susanne auf der Flucht. Das vorläufige Ergebnis: für das gräfliche Paar Verarmung und für den Grafen sogar Knast, für das andere Paar Scheidung. Denn Figaro war zu faul, ein Kind zu zeugen, für das Susanna fremdging, mit der Folge, eben die Scheidung. Dass es später doch zur Versöhnung kam, ist eine andere Geschichte. Wichtiger: das Stück schafft Klarheit schon durch den Titel. Der ist nur möglich, wenn sie wirklich verheiratet waren.

Andrea Stadel (Susanna), Florian Götz (Figaro), Virginia F. Ferentschik (Marcellina), Rúni Brattaberg (Bartolo)Andrea Stadel (Susanna), Florian Götz (Figaro), Virginia F. Ferentschik (Marcellina), Rúni Brattaberg (Bartolo)

Die Inszenierung im Theater Lübeck wurde grandios gefeiert. Verraten wir es gleich: Auch an der Trave endet Mozarts Opern-Geniestreich so, dass man eigentlich nicht weiß, ob Figaro seine Susanna nun ehelicht oder nicht. Man darf es annehmen, es sind auch gute Gründe dafür, vor allem der, dass sie sich später scheiden lassen (s. o.). Das andere Ergebnis der Opernversion kennen wir: Der Graf entschuldigt sich mit Schmelz in der Stimme bei seiner Frau Rosina, die er dem Doktor Bartolo weggepickt hatte. Dass er es an diesem Abend schon einmal tat, hatte der Herr wohl vergessen. Aber der hochzeitliche Treueschwur ist wirklich schon einiges her und sein eheliches Verhalten etwas ins Gerede gekommen, seitdem der Graf seinem Namen nicht mehr alle Ehre macht.

Almaviva bedeutet bekanntlich „lebendige Seele“. Andere Teile seiner Person werden lebendiger und fordernder, besonders in dem Moment, als Susanna sich trauen lassen will - und das ausgerechnet mit Figaro. Einst nutzte er dessen Schliche, jetzt aber muss er sich selbst als Meister der Verführung beweisen. Er versucht mit allen Tricks, sein Halali blasen zu können, obwohl er sich doch vom Ius primae noctis gelöst hatte. Das ist jenes ominöse Recht, das nicht nur in feudalen Zeiten für Aufregung sorgte, heute von „#MeToo“ in fast identischer Art Zeilen macht. Erfreulich, dass die Regie das nicht in den Vordergrund stellt, aber zeigt, dass die Opernhandlung nicht nur wegen der schönen Musik immer noch aktuell ist.

Noah Schaul (Basilio), Jacob Scharfman (Graf Almaviva)Noah Schaul (Basilio), Jacob Scharfman (Graf Almaviva)

Man kann wahrlich genießen, was da in Lübecks Dülfer-Bau geboten wird und was das Libretto vorgibt. Nicht die Regie hat Schuld, dass vieles auf der Bühne nicht klappt, es ist das Fehlverhalten der Dramatis personae. Das wird in Mozarts Opera buffa musikalisch so gewitzt und ansprechend charakterisiert und das wiederum von den Sängern und dem Orchester so klangschön und sinnlich dargeboten, dass der Zuhörer seine wahre Freude hat. Man darf deshalb nicht beklagen, dass es lange dauert, alle Irrungen und Wirrungen im harmonisch und melodiös schön gekitteten Finale gelöst zu bekommen - was ja auch ein Happy End ist.

Denn die Gräfin weiß gottlob zu verzeihen, was aber dennoch zunächst nicht das Rätsel um das andere Paar löst. Für Susanna und Figaro ist nämlich der vielstimmige und finale Jubel nur einer, der allenfalls eine Absichtserklärung enthält, nämlich die, dass man „al ballo, al gioco“ schreiten wolle. Zweifelnd ist zu fragen, ob Ball und Lustbarkeit mitsamt Festschmaus das Bestehen einer Ehe hinreichend bestätigt. Das mag altbacken sein oder abgekocht, ist dennoch auf jeden Fall von Mozart nicht gelöst. Bei seiner Liebe zu bösen Ränken oder Intrigen, man hat‘s ja vorher ausgiebig erleben können, ist der geplante Ausgang nicht hinreichend sicher. Man muss aber auch das ins Kalkül ziehen, dass der Wiener Komponist in jeder Hinsicht geschickt und auch Realist war. So wird er die Kosten für die Opernhäuser bedacht haben und das Festmahl, es hätte schon ein üppiges sein müssen, mitsamt Trauung nur voraussagen wollen. Das spart ganz ungemein, weshalb diese grandiose Zusammenarbeit von Mozart mit seinem Librettisten Lorenzo da Ponte gern auf den Spielplänen erscheint, schon seit 2007 in Lübeck allerdings nicht mehr. (Um gerecht zu sein, muss man die Musikhochschule nennen und ihre Aufführung von 2013.)

Jacob Scharfman (Graf Almaviva), Florian Götz (Figaro)Jacob Scharfman (Graf Almaviva), Florian Götz (Figaro)

Turbulent geht es an der Beckergrube dennoch zu. Es ist in Lübeck eine Straße, in der so mancher Barbier oder Figaro, heute viel auch in weiblicher Gestalt, seine Kunden zurechtstutzt. Oben in der Straße, im Theater, sieht man nach wie vor einen Mann, allerdings einen, der zum Angestellten geworden ist. Man erinnert sich, bei Rossini war er noch freiberuflich. Sehr häufig wird das auf der Bühne vergessen. Hier, in des Briten Stephen Lowless‘ amüsanter Regie, darf Figaro einmal wieder das tun, was er gelernt hat, und aus freien Stücken. Er darf Haare schneiden. Schließlich ist es seine ursprüngliche Gabe, Menschen ein Gesicht zu geben, mit und ohne Perücke. Er kürzt hier spontan und in einer Umgebung, wo selbst Cherubino sich zu fügen hat, dem den Lockenschopf. Er sollte ja zum Militär.

Vieles hat Lowless im Text gelesen, manche Kleinigkeit hinzugefügt wie auch Vladar vor allem Takahiro Nagasaki als Hammerklavieristen und Secco-Begleiter ein paar hübsche Anspielungen erlaubt. Ein zweites ist dem Briten gelungen, zu zeigen, dass es mal wieder eine Frau ist, die alles durcheinander bringt. Gerechterweise gehört dazu der Nachsatz, dass sie alles wieder ins richtige Lot zu bringen weiß. Sie kennt sich aus mit dem Grundübel, mit der männlichen Lust, auch mit den Folgen, womit nicht mögliche Kinder gemeint sind, sondern der Vertrauensverlust, der an vielen Stellen eine Rolle spielt und bei dem sie zu trösten weiß. Woher sie ihre Erfahrung hat, muss man nicht wissen. Umso cleverer lenkt sie gleich zu Beginn ihren Figaro auf das, was die herzogliche Begierde wirklich will. Das Wohnarrangement spricht Bände, nur ihr Zukünftiger kann das nicht lesen.

Joo-Anne Bitter (Gräfin Almaviva), Andrea Stadel (Susanna), Jacob Scharfman (Graf Almaviva)Joo-Anne Bitter (Gräfin Almaviva), Andrea Stadel (Susanna), Jacob Scharfman (Graf Almaviva)

Das Leichte der Handlung unterstützt Adrian Linfords Bühne. Die gewisse Dekadenz macht er mit runden, leicht beweglichen Wandelementen deutlich, wie geschaffen für vermeintlichen Durchblick und zum Verstecken. Überall sieht man allerdings Zeichen von Verfall, vor allem an den Wänden. Türen gestatten zwar Durchblicke, auch auf amönische Landschaften, aber es sind nur gemalte Tapetenwände. Real ist nichts, dafür für alle Handlungs- und Überraschungsereignisse geeignet, auch für die Guillotine, die über die Bühne geschoben wird. Erfreulich allerdings sind die Kostüme der Bediensteten in gedämpftem Rot, ebenfalls die des Grafen mit aristokratischer Dekadenz und mit einem Hauch von Prunk bei der Gräfin. Basilio dagegen überschreitet mit Geige und einer verdrehten Rokoko-Perücke schon die Grenze zur Karikatur.

Die Aufführung macht einfach Spaß, hat das Theater doch mit Andrea Stadel eine Susanna, die allem gewachsen ist. Ihre Stimme verlässt in Momenten auch den perlenden Bel-Canto-Ton, etwa wenn sie sich der Hände des Grafen erwehren muss, aber doch in seinen Armen etwas zu lang verharrt. Was will uns das sagen? Ihr Figaro ist vom Barbier zum fest engagierten Kammerdiener geworden, muss nun mehr gehorchen. Wunderbar kann Florian Götz mit seinem Bassbariton von Devotheit zur Aufmüpfigkeit wechseln. Seine Cavatine „Se vuol ballare“ klingt ehrlicher, nicht so barsch wie zumeist und etwas Zweifel wegen seiner Abhängigkeit verratend. Er ist im Gesang und Spiel eine tolle Besetzung. Auch das gräfliche Paar mit Jacob Scharfmann und Joo-Anne Bitter, ein Gast, macht sich gut. Scharfmann, seit neuestem im Ensemble, hat einen kräftigen Bariton und seine Rosina den passenden ausdrucksvollen Sopran, der nur anfangs ein wenig zu viel Vibrato hat, dafür im weiteren Ablauf immer mehr Klang bekommt.

Virginia F. Ferentschik (Marcellina), Rúni Brattaberg (Bartolo)Virginia F. Ferentschik (Marcellina), Rúni Brattaberg (Bartolo)

In Lola Salome Fischer hat das Haus eine tolle Besetzung für den Cherubino, der wahrlich als Hosenrolle nicht leicht zu gestalten ist. Alle anderen kommen mit dem recht lebhaften Tempo sehr gut zurecht: Virginia Felicitas Ferentschik als plötzliche Mutter Marcellina, Noah Schaul sowohl als geckenhafter Basilio als auch als brummiger Don Curzio. Nataliya Bogdanova gibt der Barbarina sehr sympathische Züge wie Steffen Kubach dem Gärtner Antonio seinen widerborstigen Charakter. Einzig für Rúni Brattabergs fülligen Bass, den er für den Bartolo sehr komödiantisch einsetzt, ist das geschwinde Parlando einfach nicht zu schaffen.

Was kann man alles bewundern! Es sei noch einmal gesagt, diese „Hochzeit des Figaro“ verdient ihren Jubel. Warum der Librettist aber weder im Programmheft noch anderswo genannt wird, bleibt geheimnisvoll. Sein Anteil an diesem Werk ist doch wahrlich kongenial. Mozart hat ihm viel zu verdanken. Allein schon das genügt, wie er das Finale im zweiten Akt gestaltete. Es ist raffiniert genug, ihm in jeder Ruhmeshalle einen Platz zu geben.

Fotos: (c) Olaf Malzahn

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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