Agnes Mann (Karl Moor)

Frauenpower im Großen Haus mit Friedrich Schillers „Die Räuber“
Ich bin mein Himmel und ich bin meine Hölle

Erst kurz vor Beginn der Vorstellung, die im Großen Haus als Friedrich Schillers „Die Räuber“ angekündigt war, wurden die Saaltüren geöffnet. Der Zuschauer glaubte, zu früh gekommen zu sein, denn auf der Bühne wurde noch gearbeitet, geschraubt, gebohrt, Latten verschiedener Länge zurechtgesägt, die dann in ein achtseitiges Gebilde gesetzt wurden. Frauen erkannte man in grober Kleidung.

Schnell war klar, dass das zu Andreas Nathusius‘ Inszenierung und Annette Breuers Ausstattung gehörte. Es waren die Räuberinnen, die sich ihre eigene Kulisse schufen, das spätere gräfliche Gebäude. Mit den Latten wurde theatralisch, doch eindrucksvoll und sinnfällig gespielt. Sie konnten leicht wieder herausgezogen werden, durch die Luft wirbeln, um dann mit lautem Knall auf den glatten, spiegelnden Boden zu landen. Kürzere dienten dem alten Moor als Gehhilfen, andere, herausgezogen, ermöglichten Zu- und Ausgang.

1780 hatte Friedrich Schiller „Die Räuber“, sein dramatisches Erstlingswerk, ausgearbeitet, gleichzeitig etwa mit seinem „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“, verfasst als medizinische Dissertation. Ihr Problem ist im Ansatz eines, das heute im Bereich der Psychosomatik erfasst wird. In Sprache und Ideen scheint da manches zwischen Medizin und Dichtung hin und her geflossen zu sein. In den „Räubern“ lässt sich das sehr gut in den körperlichen Schwächen aufzeigen, die Franz‘, das „zuckersüße Brüderchen“, kennzeichnen und die mit seinem negativen Charakter zusammenhängen. Ähnliches ist auch für einen Teil der Bandenmitglieder festzustellen, männliche Kraftkerle, deren Dumpfheit sie zu Mördern und Marodeuren werden lässt. So spaltet sich die Bande in zwei Fraktionen, die um Spiegelberg und die um Franz‘ idealistischen Bruder Karl.

Katharina Uhland (Roller), Esther Schwartz (Razmann), Agnes Mann (Karl Moor), Astrid Färber ( Schweizer), Rachel Behringer (Grimm), Susanne Höhne (Spiegelberg)Katharina Uhland (Roller), Esther Schwartz (Razmann), Agnes Mann (Karl Moor), Astrid Färber ( Schweizer), Rachel Behringer (Grimm), Susanne Höhne (Spiegelberg)Das auf der Bühne darzustellen, hat seine Grenzen, zumal am Theater Lübeck der Vorrat an Darstellern erschöpft war. Es war die dritte, im wöchentlichen Abstand gezeigte Inszenierung. Zwei Spieler waren bei „Tonio Kröger“ im Studio nötig. „Game of Crowns“ in den Kammerspielen band weitere acht, wobei die Rolle eines der drei Könige bereits von einer Frau übernommen wurde. Da lag der pragmatische Zwang nahe, ein Frauenstück zu „er“finden (Premiere: 13. September 2019), angekündigt ohne Genderstern oder Gendergap. Man ließ Räuberinnen Räuber bleiben, um - laut „TheaterZeit“ - zu prüfen: „Unterscheiden sich weibliche und männliche Aggression und Gewalt?“, auch das eine psychosomatische Fragestellung, womit man Schiller vermeintlich sehr nahe war.

Sechs Frauen mussten herhalten und „Rache nehmen für das Unrecht der Welt und für die Freiheit“ (s. Vorankündigung). Sie taten es mit Lust, wie Statements in etlichen Einblendungen auf einer Vollmondscheibe bezeugten, die beim Erarbeiten der Inszenierung entstanden. Die Damen formulierten da ihre Schwierigkeiten bei der Darstellung, aber auch ihre Freude, dass sie es den Männern mit ihrem Machogehabe mal zeigen könnten, wie sie, die vom anderen Geschlecht, so wirken. Sollte das eine verspätete feministische Attacke sein? Auch wenn sie berechtigt zu sein scheint, weil überall Überholtes noch immer nachwirkt und gerade im Theatermilieu allzu oft die oberen Instanzen männlich besetzt sind oder werden, wirkte die Frage reichlich aufgesetzt.

Susanne Höhne (Spiegelberg), Esther Schwartz (Razmann), Agnes Mann (Karl Moor), Katharina Uhland (Amalia), Astrid Färber (Schweizer), Rachel Behringer (Grimm)Susanne Höhne (Spiegelberg), Esther Schwartz (Razmann), Agnes Mann (Karl Moor), Katharina Uhland (Amalia), Astrid Färber (Schweizer), Rachel Behringer (Grimm)

Schiller und sein Werk geben dafür zumindest gar nichts her. Es ist, vielleicht die Schwäche des Stückes, einseitig an das Zeitgefühl des Sturm und Drang gebunden. Zudem war der verfremdende Spielcharakter des epischen Theaters allzu unverblümt übernommen, auch wenn der vom Konzept her diktiert war: Jede der sechs Darstellerinnen hatte mehrere Rollen, musste mehrere Charaktere zeigen. Aber immerhin waren auf diese Weise zwölf des ursprünglich weit größeren Bedarfs an Männern abgedeckt.

Man spielte also Emanzipation, was sich ansah wie eine Inszenierung in einem Lyzeum oder einem Mädchenpensionat: aufgeklebte Bärte, Hosen kurz oder lang, derbe Kleidung, Imponiergehabe durch burschikoses Auftreten mit hochgezogenen Schultern und breitem Gang, verstrubbelte Haare, Herumgeballere mit Pistolen und mit Bierhumpen in der Hand, die leergetrunken vollgepinkelt wurden.

Rachel Behringer (Franz Moor), Astrid Färber (Graf Moor)Rachel Behringer (Franz Moor), Astrid Färber (Graf Moor)Die Darstellerinnen seien schon einmal genannt: Unter ihnen war Agnes Mann, die einzige, die nur eine Aufgabe hatte, dafür eine mit einer großen Spannweite. Sie hatte Karl Moor, dem „edlen“ Räuber und „guten“ Sohn Gestalt und Stimme zu geben und einen vielfältigen Charakter glaubhaft werden zu lassen. Zwischen idealistischem Verhalten und kriminellem Tun ging er seinen Weg ins Verderben, goss seine Selbstkritik in die Formel: „Ich bin mein Himmel und ich bin meine Hölle“.

Astrid Färber war als gebrechlicher, verzweifelter Vater Moor dabei und hatte eine zweite Existenz als agiler Schweizer, der idealistische Kumpan von Hauptmann Karl. Rachel Behringer hatte als intriganter, böser Bruder Franz einen sehr textlastigen Part, mit dem der sich die Welt zurechtfabulierte, und war zudem der Mitläufer Grimm, einer der negativen Charaktere in der Bande. Katharina Uhland durfte in herber Schönheit das einzige weibliche Wesen verkörpern, die brav wartende Braut Amalia. Daneben hatte sie den loyalen und besonnenen Roller zu geben und den Kosinsky, mit seinem Karl nicht unähnlichen Schicksal und Charakter.

Agnes Mann (Karl Moor), Susanne Höhne (Spiegelberg) Esther Schwartz (Razmann), Rachel Behringer (Grimm), Katharina Uhland (Roller), Astrid Färber ( Schweizer)Agnes Mann (Karl Moor), Susanne Höhne (Spiegelberg) Esther Schwartz (Razmann), Rachel Behringer (Grimm), Katharina Uhland (Roller), Astrid Färber ( Schweizer)Susanne Höhne, Fachfrau für das Gebrochene, musste den feigen und fiesen Fantasten Spiegelberg mimen, dann mit gekrümmtem Rücken und schwarzem Rauschebart den Herrmann, Bastard von einem Edelmann. Er ist Franz ergeben, ebenso neidisch auf Karl und von tierischer Natur. Es bleibt Esther Schwartz, die den Razmann spielte, der im Bandengeflecht dem Spiegelberg nahe stand.

Sehr schnell, manchmal auf offener Bühne, mussten die Rollen gewechselt werden, wobei eine geschickte Anordnung die Doppelcharakteristik durch ähnliche Charakterzüge erleichterte, Spiegelberg und Herrmann z. B. oder Franz und Grimm. Auffällig war man auch um gutes Sprechen bemüht, - bei der für heutige Ohren altertümlich wirkenden Ausdrucksweise Schillers kein leichtes Unterfangen. Dennoch ging manches, auch Notwendiges verloren. Allzu heftig wurde geschrien und in langen Monologen stellte sich Monotonie ein, weil das Variieren im Sprechtempo zur Differenzierung fehlte. Dass die Inszenierung zudem ungleichgewichtig wirken würde, hatte man wohl geahnt und das durch ein starkes Schlusstableau unter dem Motto „HERSTORY“ vergessen zu machen versucht: „Sisters are doin' it for themselves” kündete in einem anrührend gesungenen Sextett von Versöhnung: “… cause a man still loves a woman / And a woman still loves a man.”

Esther Schwartz, Susanne Höhne, Katharina Uhland, Rachel Behringer, Astrid Färber, Agnes MannEsther Schwartz, Susanne Höhne, Katharina Uhland, Rachel Behringer, Astrid Färber, Agnes Mann

Zu beobachten war, dass die Premiere wie selten schlecht besucht war, dass ein paar Besucher nach relativ kurzer Zeit gingen, andere nach der Pause nicht wieder da waren, auch der Schlussapplaus für Lübecker Verhältnisse kurz blieb. Nathusius‘ Adaptation kam offenbar nicht so an wie gehofft. Fraglich auch, ob der Zuschauer jetzt weiß, wie weibliche Machtausübung sich von der der Männer unterscheidet, wenn man nur das Tun des anderen Geschlechts imitiert. Schillers Text ist einfach zu stark, auch zu vielseitig und erzählt eine beeindruckende Familiengeschichte. Vielleicht hat Hans Mayer immer noch recht, der 1968 in einem „Theater heute“-Heft schrieb: „Wer ernsthaft gewillt ist, dies Theaterstück heute zu spielen, muss davon ausgehen, dass eine Welt von einst präsentiert wird, die sich allen Aktualisierungen widersetzt.“

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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