Hamburg, Hauptbahnhof. An einem ganz normalen Abend stehe ich am Bahnsteig, um mit dem Zug nach Lübeck zu gondeln – Regionalexpress. Ich blicke mich um, betrachte die Menschen, die wie ich auf die Bahn warten.
Alte, Junge, Hübsche, Hässliche, Kranke, Gesunde, Inländer, Ausländer, Hamburger, Lübecker. Plötzlich erfasst mich ein suchend schweifender Blick. Dieses Gesicht kommt mir vertraut vor – im Gegensatz zu allen anderen. Ja, das ist doch … Müntefering! Müntefering! Das ist doch Müntefering!
Es kommt mir vor, als würde ich Fernsehen schauen. Phoenix, eine Übertragung der Aktuellen Stunde aus dem Bundestag. Mitnichten: Ich stehe am Bahnsteig in Hamburg, gleich geht‘s mit dem Regionalexpress nach Lübeck. Und er ist auch da: Franz Müntefering, der Ex-Vizekanzler und frühere SPD-Chef. Der Mann, dem Gerhard Schröder vor zwanzig Jahren den Wahlsieg bereitete. Der zweifache Bundesminister, erst für Verkehr, dann für Arbeit und Soziales. Der, den man im dunkelblauen Anzug kennt, mit weißem Hemd und perfekt sitzender Krawatte. Auch heute noch.
Alt wirkt der Mann. Sein Haar, noch immer die gleiche Frisur, ist schütterer geworden und grau. Bedächtig schleicht er sich an den wartenden Leuten vorbei. Unsere Blicke trennen sich; er sieht wieder hinab, seinen Schritten folgend.
Was macht der hier? Mit dem Zug fahren? Einfach so? Hat der kein Flugzeug, keinen Jet? Keine Bodyguards? Ich sehe mich unauffällig um. Er scheint wirklich allein hier zu sein. Ob man ihn jetzt ansprechen könnte? Doch was sagen? Fragen, was er so macht, wie es ihm geht? Würde doch seltsam wirken. Andererseits hatte er in diesem Land ja einmal viel zu sagen. Da könnte man ihn doch ansprechen. So, wie man einen ehemaligen Direktor aus der Schulzeit vielleicht anspricht. Aber würde man das tun? Wohl kaum.
Während mir diese Fragen durch den Kopf gehen, rollt der Zug vor. Die Leute stehen Schlange. Jeder will der Erste sein. Das Übliche. Und Münte? Ja, wo ist Münte? Weg. Verschwunden. Nichts mehr von ihm zu sehen. Ob ich ihn mir nur eingebildet habe? Kann nicht sein. Und warum sollte ich? Ich bin doch nicht verrückt. Abfahrt. Nächste Station: Bad Oldesloe. Ich blicke aus dem Fenster, als der Zug dort hält. Da sehe ich, wie Müntefering die Treppe am Bahnhof hinuntersteigt. Neben ihm ein langer, schwarz gekleideter Unbekannter. Er trägt seinen Koffer.
Also war er es wirklich. Nur was will der Alt-Vizekanzler an einem Montagabend gegen 19 Uhr in Bad Oldesloe? Trifft er sich dort mit ein paar Genossen? Zu Gast auf einem kleinen Kreisparteitag? Oder hat er eine andere, vielleicht private Verabredung? „Ich bin nicht mehr Mitglied des Bundestages, aber ich versinke nicht im Schaukelstuhl“, schreibt er auf seiner Internetseite. „Ich bin ansprechbar.“
Er hätte etwas zu erzählen gehabt, ganz gewiss. Er kennt sie doch alle – Willy Brandt, Helmut Schmidt; er hat sie erlebt. Ein großes Buch muss sich da aufmachen, wenn man mit so einem redet. Da bleibt man nicht beim Smalltalk über das Wetter. Da führt die Aufregung über ein gefährliches Gewitter zur Kernfrage des Klimawandels, die ihn an eine Debatte im Bundestag erinnert, bei der er … Und so weiter …
„Mischen Sie sich ein. Politik macht Sinn und sogar Freude“, endet die schriftliche Anrede auf seiner Webseite. Im Terminkalender: Nichts, was auf ein Treffen in Bad Oldesloe hindeutet. Doch ganz allgemein lässt sich etwas finden: Er engagiert sich derzeit für die Arbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen in Deutschland, hält viele Vorträge in Altenheimen und Seniorenzentren – über Demografie, das Älterwerden und was das Altern gesellschaftlich so besonders und kostbar macht. Aber auch welche Herausforderungen sich daraus für die Politik ergeben; was es braucht, damit Alte mit Jungen und Junge mit Alten zusammenleben können, voneinander profitieren. Mensch Münte, das ist ja was …
Hätte ich Dich angesprochen, Generationen wären sich begegnet. Für Dich ja nichts Neues, lebst Du doch mit einer Frau zusammen, die fast ein halbes Jahrhundert jünger ist als Du. Jetzt verstehe ich, warum Du mich betrachtet hast. Noch einmal so jung sein, was? So lautet also das sozialdemokratische Rezept fürs Altern in Würde: Umgib Dich mit jungen Menschen und Du wirst selbst wieder jung. Das merke ich mir, auch ohne Vortrag von Dir.
Aber das ist ja die Idee: Dass sich die Politik ab heute nur noch um den Nachwuchs kümmern sollte, um die Jungen. Nicht um die Alten, die profitieren dann ja ohnehin. Ließen sich so nicht Steuergelder sparen? Ach so, Du bist ja Sozi … Mit welcher Bahn fährt eigentlich Christian Lindner?