Beethovens letzte Sinfonie, die Neunte, war wieder einmal gefordert. Es ist die Musik für die besondere Stunde, auch für die erste festliche am Neujahrstag.
Das hat Tradition, vielerorts, nicht nur in Lübeck. Wie sich die in an der Trave historisch entwickelte, ist in dem Buch „Variationen“ nachzulesen. Dort haben 1997 Karsten Bartels und Günter Zschacke die 100-jährige Geschichte des Lübecker Orchesters aufbereitet. In der akribischen Liste der Programme findet man erstmals 1974 ein Neujahrskonzert. Der Eintrag „Melodien aus Wien“ verweist zugleich auf das große Vorbild, heute im Fernsehen in mehr als 90 Ländern verfolgt.
An der Trave folgte 1975 dann ein internationaler Jahresbeginn mit Berlioz, Ravel und Gershwins „Rhapsody in Blue“. Dann erst wurde es im Folgejahr ernst mit der „Neunten“. Immerhin war Beethovens Melodie zur „Ode an die Freude“ 1972, also nur wenig vorher, zu Europas Hymne aufgestiegen und mit ihr die Vision, dass alle Menschen Brüder werden, wortlos, ohne Text, damit Schillers Idealismus in Beethovens Tönen überall verstanden werde. Aber noch war wohl in Lübeck die Zeit nicht reif für die starre Folge von Wien-Reminiszenz und Schiller-Ode im Wechsel. Nur dreimal noch erklang sie, 1991, 1997 und 2000, zum Jahrtausendwechsel sogar zusammen mit der „Zweiten“, bevor sie seit 2005 alle zwei Jahre aufgeführt wurde.
In diesem Jahr bekommt der Jahresanfang allerdings vielfältigen Beigeschmack. Ein eher angenehmer ist, dass das Orchester mit seinem jetzigen Leiter Stefan Vladar mit dieser Aufführung sich selbst eine „Corona“ aufsetzte, eine andere als die, mit der das weltweit so trickreich wie perfide agierende Virus sich schmückt. Es hatte das ehrgeizige Projekt unnötig verzögert, das im Jahre 2020 Beethoven zu seinem 250. Geburtstag ehren wollte. Alle seine Sinfonien sollten aufgeführt werden. Nun endlich kann die „Neunte“ das Vorhaben abschließen, rechtzeitig zur Weihe des Jahres, in dem Beethoven seine letzte Sinfonie vor genau 200 Jahren fertigstellte.
Einen unangenehmen Beigeschmack hat dagegen die so jubelnd betonte weltumspannende Utopie von der Tochter aus Elysium, der Freude als Götterfunken, bekommen. Die damit verbundene Idee von einer umfassenden Menschenfamilie aus lauter Brüdern (wo sind die Schwestern?) mag angesichts der stets bösen Nachrichten aus der Ukraine nicht recht schmecken. Sie machen jeden Tag das plötzliche Ende einer langen Friedenszeit und den Verlust des Gefühls von Sicherheit deutlich, wofür allerdings Schiller nichts kann, auch Beethoven nicht.
Die MuK war nach der Befreiung von den Corona-Restriktionen besetzt wie lange nicht mehr, fast bis auf den letzten Platz. Das gibt Hoffnung, dass wenigstens das Musikleben sich wieder erholt. Vielen ist es offenbar ein Bedürfnis, sich zumindest Beethovens Töne zu Schillers Ode anzuhören, das Ritual auch in dieser bedrohlichen Zeit zu vollziehen. Es war wie ein Trotzdem, wie ein „Wir lassen uns die Utopie nicht rauben“. So war der Applaus zum Schluss begeistert, durch Schiller, durch Beethoven und natürlich durch die Musiker, die dieses besondere Werk wieder zum Klingen brachten.
Musikalisch überzeugte GMD Stefan Vladar nicht vollständig. Allzu sehr schien er in der Lautstärke bereits in den beiden ersten Sätzen das große Finale im Sinne zu haben. Mit ganzem Körpereinsatz, mehr antreibend als differenzierend, führte er seine Musiker, forderte eine so aufgeregt wirkende Lautstärke, die schon hier den Bariton hätte zu seinem „O Freunde, nicht diese Töne“ einschreiten lassen sollen. Vladar ließ zudem die Pauke mit harten Schlägeln in einer Lautstärke knallen, die wehtat, die an die sinnlos Menschen wie Tiere schädigende Ballerei am Abend und in der Nacht vorher erinnerte.
Manche, vor allem Ältere, werden sich zudem dem nicht entziehen können, was sie in ihrer Jugend erleben mussten und was sie jetzt bei den Bildern im Fernsehen besonders quält. Man möge verzeihen, aber Musik beeindruckt manches Mal auch physisch, vor allem dann, wenn der Klang sich nicht in erster Linie als ästhetisches Phänomen erkennen lässt. Das Paukengedonner, vor allem in der Reprise des ersten Satzes, übertönte zudem dort, wo der Rezensent saß, häufig alles Bemühen der anderen Instrumente.
Dass es anders ging, bewies Vladar im dritten Satz und dann in vielen Partien des vierten. Zu erkennen war, dass er alles wie aus einem Guss gestalten wollte. Dazu zählt auch, dass gleich zu Anfang mit dem Orchester die Solisten und der Chor auftraten, was seltsamerweise in anderen Aufführungen erst vor ihrem Einsatz erfolgt.
Rúni Brattaberg hatte mit seinem breit schwingenden Bass-Bariton keine Probleme, sich über alles hinwegzusetzen. Auch die Theaterkollegen, der junge Noah Schaud mit seiner schlanken, doch kraftvollen Tenorstimme ebenso wie die klangvollen und wendigen Frauenstimmen, die Sopranistin Evmorfia Metaxaki und der Alt Laila Salome Fischer, überragten mühelos den stimmgewaltigen Chor. Die Sänger aus dem erweiterten Theaterchor und dem Lübecker Phemios Kammerchor, 2009 von Studierenden der Musikhochschule Lübeck gegründet, hatte Jan-Michael Krüger einstudiert. Sie bewältigten die schnellen Tempi erstaunlich klangschön.
Es wurde schon gesagt, dass das Publikum die Schwächen überhörte und mit langem Befall dem Ereignis zum Jahresanfang lange applaudierte.
Fotos: (c) Olaf Malzahn