Johanna Borchert, Foto: (c) Joanna Kosowska

Frühlingsjazz und Anverwandtes

Seitdem ich das letzte Mal an dieser Stelle über Tonträger berichtet habe, sind viele CDs in meiner Anlage zu Gast gewesen. Über die, die sich am häufigsten im CD-Spieler drehten, will ich im Folgenden berichten.

Den Start macht: Johanna Borchert „Love or Emptiness“. Manchmal können frühere Produktionen auch behindern. Mir ging's so mit dem immer noch sehr empfehlenswerten Album „FM Biography“, dem jazzigen, preisbestückten Avantgarde-Pop-Kunstwerk von Johanna Borchert, das meinen Ohren lange im Weg stand, die neue Produktion auf- und anzunehmen.

Vielleicht liegt es an Co-Produzent Olaf Opal (Arbeit mit Sportfreunde Stiller, Juli und Die Sterne), dass vom Jazz, der großen Dynamik und der freien Wildheit des Road-Movies für die Ohren nicht viel übrig geblieben ist. Hinzugekommen sind dafür mehr Elektronik, bisweilen Groove und eine stärkere Ähnlichkeit Johanna Borcherts stimmlicher Melodiebögen.

Die 10 auf knapp 42 Minuten verteilten Titel bilden einen neuen Evolutionsschritt: Sie fügen sich zum dritten Solo-Album der vielseitigen in Bremen aufgewachsenen Musikerin, ihrem zweiten als Songwriterin und ihrem ersten mit ihrer „Working Band“, dem Berliner Quartett, mit dem sie seit vier Jahren tourt: Mit Moritz Baumgärtner (Schlagzeug), Peter Meyer (Gitarre) und Jonas Westergaard hat sie drei erprobte und ausgezeichnete Jazzer in ihrer Hausband versammelt.

Die dürfen ihre improvisierenden Fähigkeiten (für meine Ohren) leider nur in Ansätzen zeigen. Und die Bläser und Streicher, die ergänzend dazu geholt wurden, sind kaum zu vernehmen, treten hinter den elektronischen Effekten zurück. Gleichfalls ist alles kompakter, insgesamt kräftiger im Ton. Der Vorgänger „FM Biography“ war aufgrund der großen Dynamik der einzelnen Titel wenig radiotauglich. „Love or Emptiness“ ist so gemastert, dass es on Air neben stark komprimierten Titeln anderer Interpreten nicht untergehen kann. Dazu ist der Neuling häufiger tanzbar, gleichmäßig rhythmisch, bisweilen swingt Johanna Borchert („Wild Bird Tree“) und ist zu Beginn wie Ende hymnisch dem Himmel nah.

Die CD ist graphisch wieder sehr schön gestaltet, gewöhnungsbedürftig ist jedoch das Booklet, die kleinen, teilweise kontrastarmen Texte rufen dazu auf, den nächsten Tag einen Termin beim Optiker zu machen und schließlich hat man entdeckt, dass der erste Titel erst auf der dritten Seite abgebildet ist – das Booklet beginnt mitten im Track Sun Sister.

Mit ihrer neuen Produktion erforscht die Sängerin und Pianistin Borchert Gefühlszustände wie menschliche Beziehungen Die Texte sind lyrisch und gleichzeitig kryptisch, bisweilen düster und dramatisch. Den Reichtum an Gefühlswallungen möchte man im realen Leben nicht so kurz hintereinander durchleben. Bei all meinem Fremdeln zu Beginn habe ich mich mit „Love or Emptiness“ in ein Album jenseits musikalischer Trampelpfade und reich an vielen Entdeckungen eingehört und es schätzen gelernt. Es muss ja nicht immer Jazz sein.

Johanna Borchert: Love or Emptiness, Yellowbird (Soulfood), November 2017, Amazon


Es ist nicht leicht, sich im Jazz in der Sparte Klaviertrio zu behaupten. Michael Wollny und sein Trio brauche ich nicht zu erwähnen. Gerade haben die drei (Eric Schaefer: Schlagzeug; Christian Weber: Bass) zwei neue CDs eingespielt, von denen mir das zusammen mit dem Norwegian Wind Ensemble (Leitung: Geir Lysne) produzierte „Oslo“ am meisten gefällt. Mit Wollny teilt ein anderer langjähriger Protagonist des Klaviertrios (am Bass: Chris Jennings) den Schlagzeuger: Joachim Kühn, ein alter Haudegen, an dem sich die Geister scheiden, dessen „Beauty & Truth“ es (trotz seiner neuen Einspielung „Love & Peace“) bis heute regelmäßig in meinen CD-Spieler schafft.



Dann ist da der Finne Iiro Rantala, der das Genre mit seiner humorvollen Art bereichert („how long is now?“ zusammen mit Lars Danielson, Bass und Peter Erskine, Schlagzeug). Während Rantala sich (zurzeit) nicht auf ein Trio festlegt, bilden Brad Mehldau mit Larry Grenadier am Bass und Jeff Ballard am Schlagzeug ein seit 2005 hervorragend eingespieltes Trio und sind am 03. Juli dieses Jahres in der MuK zu bewundern (unbedingt hingehen). Und dann sind da noch das Vijay Iyer Trio, das Tingvall Trio und, und, und … wie gesagt, es ist nicht leicht.

Der Pianist Chris Gall hat es dennoch (wieder) gewagt: Nach dem Projekt „Myriad“ mit dem Perkussionisten Bernhard Schimpelsberger und der Beteiligung an Tango zusammen mit Quadro Nuevo hat er mit seinem Trio „Cosmic Playground“ eingespielt. In seinem launigen CD-Text vergleicht Gall die Freiheit des Universums mit der Freiheit des Jazz und in der stimmigen Interpretation seines Trios gebe ich ihm Recht. Die große Vielfalt der neun Tracks beinhaltet außer zwei Fremdkompositionen – „Sea Lion Woman“ (ursprünglich ein Traditional, bekannt durch so unterschiedliche Interpretinnen wie Nina Simone und Feist) und das berühmte „Across the Universe“ (Beatles) – gelungene phantasievolle Eigenkompositionen des Pianisten.

Das Album bietet alles: Vom entspannten Laid-Back-Jazz über die freie Improvisation, Opulenz, Singer-Songwriting, Ruhe bis hin zur Kontemplation. Es gibt treibende Ostinati, rhythmisch vertrackte Strukturen, sehr melodische Partien und musikalischen Humor. Alles in wundervoll klarer Klangqualität mit schöner Räumlichkeit. Chris Gall, Henning Sieverts am Bass und Peter Gall (ja, der Bruder) am Schlagzeug sind eingespielt, hören aufeinander, ergänzen sich und klingen wie aus einem Guss, als würden sie tagein tagaus nichts anderes machen. Zwischendurch geben sie sich auch einmal Raum für kleine Soloausflüge, bleiben aber meist eine interaktiv agierende und parallel improvisierende Einheit. Auf CD gepresster Jazzgenuss von vorne bis hinten!

Chris Gall: Cosmic Playground, Glm Gmbh (Soulfood), 2. Februar 2018, Amazon


Wieder anders, fast besinnlich ruhend Akkorde durchspielend und die Arrangements klein sowie aufs Wesentliche konzentriert haltend schlich das mir bis zu dieser CD nicht bekannte Alexander Paeffgen Trio in die Gehirnwindungen und entwickelt dort bis heute (trotz bisweilen großer Intensität) eine beinahe angenehm beruhigende Wirkung.



Mal groovend kräftig den Flügel bearbeitend, mal besonnen einzelne Tasten anschlagend und dem Klang nachhörend, schert sich der Kölner zusammen mit seinen erfahrenen und langjährigen Kollegen Christoph Sauer (Bass) und Christof Jaussi (Schlagzeug) nicht um Konventionen des Jazz, nimmt klassische ebenso wie populärmusikalische Formen auf, und spielt scheinbar freudig drauf los. Scheinbar, denn die Produktion ist sauber durchkomponiert und gesetzt, kein Wunder, Paeffgen verdingt sich seinen Lebensunterhalt ebenso als Komponist.

Das Klavier steht eindeutig im Vordergrund und ist gleichfalls ohne die Begleiter nicht denkbar, so organisch bildet sich ein Gesamtklangbild. Denn dem Professor für Komposition und Musiktheorie sind Klangfarben wichtiger als Fingerartistik am Steinway. So sind wunderschöne Stücke entstanden, die ganz nebenbei die Anzahl der Endorphine der Hörenden vervielfältigen (ohne dass dafür wie sonst bei Endorphinen ein Notfall eingetreten ist …).

Alexander Paeffgen Trio: #Jazz, Broadview Music, 10. Juni 2016, Amazon

 

Um nicht auch im Haifischbecken Klaviertrio bestehen zu müssen, hat der promovierte Philosoph, Bandleader, Pianist, Komponist und Arrangeur Kilian Kemmer einfach ein Quartett gegründet und den aufstrebenden Tenorsaxophonisten Matthieu Bordenave neben René Haderer am Bass und Matthias Gmelin am Schlagzeug in seine Band geholt.

Obwohl ihm oder vielleicht gerade weil ihm Zeit durch frohe private Ereignisse (sein erster Sohn gerade geboren, die Tochter bereits unterwegs) immer knapper wurde, meinte er „Jetzt Und In Echt“ und beschäftigte sich mit weiteren unterschiedlichen Facetten des Themas Zeit – das verraten ebenso Titel wie „Wellbeing beyond time“, „Im Flug“ oder „Die Zeit läuft“.



Entspannt, fast lässig, flaniert das Quartett meist in gemäßigtem Tempo durch schlichte, gleichfalls nie banale, wunderschöne Kompositionen (bis auf einen Titel alle von Kemmer) und Arrangements, die die große Stärke des Albums bilden. Selten wird es mal schräg (und wenn, dann passt das genau an die Stelle), alles klingt schlüssig und wird nicht langweilig. Zu hören ist knapp 53 Minuten lang klarer, einfacher, melodischer Jazz ohne gekünstelte Attitüde. Jazz, der vom Klang lebt, vorneweg vom schönen, warmen Ton Bordenaves. Lyrisch, verträumt, bisweilen nachdenklich, gut geeignet für ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück oder als Begleiter zu einem Glas guten Weines an einem lauen Abend!

Wer sich von der hiesigen Namenlosigkeit der Musiker (von den Vieren hat einzig Bordenave einen Wikipedia-Eintrag) nicht abschrecken lässt, macht mit „Jetzt Und In Echt“ eine Entdeckung, die er/sie nicht bereuen wird.

Kilian Kemmer Quartett: Jetzt und in Echt, Glm Gmbh (Soulfood), 6. April 2018, Amazon


Über Mulo Francel habe ich hier schon häufiger geschrieben. Über seinen sanften Saxophonton, die Melodiösität und Virtuosität, die ZuhörerInnen glauben lässt, das Saxophonspielen sei für ihn eine der leichtesten Sachen der Welt (und wenn man dann selber zum Horn greift …). Was kann ich da zu seinem Act-Erstling „Mocca Swing“ hinzufügen? Nun, tatsächlich eine ganze Menge: Der weitgereiste Motor der vielfach prämierten musikalischen Weltenbummler Quadro Nuevo hat seine ganze Leidenschaft wie Erfahrung in ein Doppelalbum gegeben, das eine Quartettversion und (zusammen mit dem Münchner Rundfunkorchester) eine symphonische Seite enthält.

Alte (und neue) Gefährten haben ihn dabei unterstützt, eine der in meinen Augen romantischsten (instrumentellen) Jazz-CDs der letzten Jahre einzuspielen: Im Quartett sind dies der sehr spielfreudige und bewegliche David Gazarov am Flügel, Sven Faller, wie die Kollegen in vielen Formationen erprobt, am melodisch interpretierten Bass und der in der österreichischen und süddeutschen Szene auf unterschiedlichsten Terrains aktive Robert Kainar am Schlagzeug, weder zu sehr im Hintergrund noch sich in den Vordergrund spielend.

Das Rundfunkorchester wird geleitet von Enrique Ugarte (bekannt von Quadro Nuevos „End oft the Rainbow“), der auch einmal selber die Quetsche in die Hand nimmt. Dann sind zusätzlich zum Rundfunkorchester in der sinfonischen Ausgabe die Quadro Nuevos Evelyn Huber (Harfe), Andreas Hinterseher (Akkordeon), D. D. Lowka (Bass) sowie Chris Gall (Flügel), Max Klaas (Percussion) und schließlich die zwei Jungs von Café del Mondo Jan Pascal und Alex Kilian sowie last but not least Paulo Morello (alle Gitarre) zu hören.



Entstanden ist Jazz der 1950er und 60er Jahre, der den vielseitigen Musiker über die Schallplatten seines früh verstorbenen Vaters inspiriert und begleitet hat und der (mit den heutigen Mitteln neu interpretiert) in seiner elegantesten Form weiterlebt. Mulo Francels Improvisationen bleiben auch auf „Mocca Swing“ im harmonischen Raum, selten wird es mal schräg, noch weniger schrill; er lädt ein zum Träumen, Reisen durch weite musikalische Welten. Francels Läufe perlen leicht dahin, sein betörender Ton wird besonders in langsamen Stücken deutlich. Der Bandleader kann sich gleichfalls zurücknehmen und seinen kongenialen PartnerInnen Raum geben; so entsteht ein griffiges wie kompaktes Gesamtkunstwerk anstelle eines Egotrips.

Das Titelstück „Mocca Swing“ ist ein Stück des mehrfach ausgezeichneten Albums „Mocca Flor“ (Quadro Nuevo) und auf beiden Scheiben zu hören. Es ist wie die meisten der Produktion aus Mulo Francels Feder und bietet Ohrwurmqualität, ohne langweilig zu werden. Der Chiemgauer könnte das Album locker ausschließlich mit eigenen Kompositionen füllen, nimmt aber auch Stücke seiner Mit-Musiker sowie Klassiker auf. Alle gut arrangiert und locker dahingetupft, in der sinfonischen Abteilung opulenter, ohne aber zu dick aufzutragen.

Diejenigen, die den Klarinettisten und Saxophonisten ausschließlich von Quadro Nuevo kennen, mögen anfangs vielleicht etwas befremdet sein, werden aber, sobald sie sich einlassen, viel Neues entdecken, Altes wiederentdecken und sehnsuchtsreiche Musik für die schönsten Stunden des Tages genießen können.

Mulo Francel: Mocca Swing, Act, 27. Oktober 2017, Amazon


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