Allstar Poetry Slam Gala-Show
Von Appläusen, Einhorneimern und dem Klassenclown

Großartige Slam-Poet*innen hatte Tilo Strauß von Slamarama zur Gala ins Theater Lübeck eingeladen, und er hatte nicht zu viel versprochen: Sie gehören zu den Besten!

Das vergleichbare Niveau zeigte sich bei den Publikumswertungen, die dicht beieinander lagen. Gleichwohl war das Programm wegen der unterschiedlichen Themen kurzweilig. Feature-Poetin Anastasia Rutkowska und Liedermacher Lennart Schilgen bereicherten es zusätzlich.

Strauß selbst und sein Mitstreiter Daniel Groß verstehen es, Gäste und Publikum herzlich willkommen zu heißen; anders, als man es mitunter bei Moderatoren erlebt, sind sie weder selbstverliebt noch drängen sich sonstwie in den Vordergrund. Und so begann dieser Abend, nachdem das Schnattern und Giggeln im Saal nachgelassen hatte, ganz unaufgeregt mit der Auswahl der Publikums-Jurys und der Erklärung des Punktesystems. Strauß: „Zehn Punkte vergebt ihr, wenn die Synapsen glühen. Ein Punkt würde bedeuten: hör bloß auf mit Texten!“ Dem Publikum riet er: „Versucht ruhig, durch eure Appläuse Einfluss auf die Wertung zu nehmen.“

Anastasia RutkowskaAnastasia Rutkowska

Zum Loseziehen hatten sie einen pinkfarbenen Eimer mit Einhornemblem mitgebracht, und Tilo Strauß versäumte es nicht, auf den neuen Klebestift hinzuweisen, als Daniel Groß die Namensschildchen der Poet*innen an ihren Platz in der Wertungstabelle pappte. Vorher gab es noch dickes Lob für die Losfee, die die Reihenfolge der Auftritte zog: Sie solle doch ins Moderatorenfach wechseln. So sind sie, die beiden, in ihrem Element: bewegen sich im eleganten Smoking durch die feine Theaterkulisse und geben allen das Gefühl, zu Hause zu sein.

Bevor der Wettbewerb begann, räsonierte die Kielerin Anastasia Rutkowska pointenreich, was wohl passiere, wenn ein Dichter ins Land der Denker reist – und umgekehrt. Ungläubige „Ohs“ durchwogten den Saal, als die Slammerin zum Schluss ihr Alter verriet: 14!

Sebastian23Sebastian23

Mit Sebastian23 trat ein in Lübeck nicht Unbekannter als Erster im Wettbewerb an – und teilte das Schicksal aller Vorreiter, (zu) vorsichtig bewertet zu werden. Nach seiner einleitenden Miniatur „Umlaut zu sein“, in der Dänen auf Dünen dösten und allerhand Vergnügliches passierte, präsentierte er seinen neuesten, klugen und brillant geschriebenen Text über das Land des Bewahrens. Alle Jurys vergaben 8 oder 9 Punkte; die erste 10, die schon Sebastian verdient gehabt hätte, zeigte sich beim vierten Beitrag.

Sandra Da Vina, die, dem Aufräum-Trend folgend, einiges aus ihrem „Lebenslauf zum Ausverkauf“ darbot, ließ vor den Ohren der Zuhörerschaft einen riesigen Flohmarktstand lebendig werden, auf dem es ein Werwolf-Puzzle und Milchzähne zu erstehen gab und „sich Brecht und Fitzek gern hatten“. Das Publikum hatte die Poetin gern und verlieh ihr einen Punkt mehr als Sebastian.

Micha EbelingMicha Ebeling

Wieder einen Punkt weniger gab es für Micha Ebeling, dessen Geschichte „Wie mir mal fast was Peinliches passiert wäre“ mehrere Ebenen hatte. Eine unerfüllte Liebe, sein späteres Schreiben darüber und die Begegnung mit der Frau aus dem Text, die bei der Lesung auftaucht und nicht merkt, dass es um sie geht – eine irrwitzige Wort- und Ereignisspirale!

„Als Sartre schrieb: ‚Die Hölle sind die anderen’, kam er vom Spielplatz.“ So begann Florian Hacke, amtierender Schleswig-Holstein-Meister, seinen Erfolgs-Slam. Herzliche und auch anteilnehmende Lacher fuhr er einen nach dem anderen ein für Schilderungen wie die seines Einstands bei den Spielplatz-Müttern. Welches denn sein Kind sei? „Ich habe mich noch nicht entschieden...“

Paulina BehrendtPaulina Behrendt

Direkt von der Abi-Entlassfeier sprang Paulina Behrendt auf die Bühne und rechnete beherzt mit dem G8-System ab. „Strichrechnung“ hieß ihr Text, in dem sie unter anderem 32 Millionen verlorene Sekunden jugendlichen Existierens in die Waagschale warf. Das rechnete sich für sie in dieser Runde: Sie erzielte das zweitbeste Ergebnis nach Florian Hacke.

Lennart Schilgen hatte zwar seine Gitarre dabei, doch auch bei ihm kam es auf die Texte an. Nachdem er einem Schnäppchenjäger erklärt hatte: „Du bist nicht der Jäger, du bist das Reh“ und den „Tag des Wankelmuts“ ausgerufen hatte, begann er ein melancholisches Liebeslied. Das entpuppte sich allerdings von Strophe zu Strophe mehr zu einem Stalker-Song – ein raffinierter Dreh, für den er viel verdienten Applaus einheimste.

Lennart SchilgenLennart Schilgen

Die Slam-Poet*innen traten im zweiten Durchgang in umgekehrter Reihenfolge auf und zeigten ihre Vielseitigkeit. Paulina Behrendt fragte in ihrem bemerkenswerten Beziehungsstück „Tauchen“: „Wie tief sind deine Wasser, und wie schnell bist du unten?“

Worauf Florian Hacke, wenn man so will, direkt antwortete, indem er einen Blick zurück auf seine Schulzeit warf, in der er verhöhnt und getriezt wurde. „Manche quälen, manche leiden“, so sei das eben, habe er damals gedacht, denn: „Was alltäglich passiert, akzeptiert man als Leben“. Damals habe er den Ausweg als Klassenclown gesucht. Heute, reifer, denkt er weiter: Andere kann nur lieben, wer auch sich selbst mag. Für diese Schlussfolgerung und seinen Vortrag, mit dem er vor wenigen Tagen auch den schleswig-holsteinischen Poetry-Slam-Meistertitel verteidigt hat, vergaben die Publikumsjuroren die meisten Punkte.

Florian HackeFlorian Hacke

Dagegen kam Micha Ebeling mit seiner anarchisch-aberwitzigen Geschichte, wie er das Jodeln gelernt habe, nicht an. Ursache war ein kaputter Toilettensitz in der Schweiz. Sein derberer Tonfall traf den Publikumsgeschmack offenbar nicht ganz; seine Jodel-Kostproben hingegen machten das fast wieder wett.

Sandra Da Vina nahm die typische YouTube-Schönheitsexpertin aufs Korn, lästerte über unsinnige Kosmetik und Selbstoptimierung und schilderte eigene Versuche mit Selbstironie und Augenzwinkern unter ungeschminkten Wimpern. Ganz beiläufig kam ihre Systemkritik um die Ecke. Gebe es doch in den Beauty-Zeitschriften außer vielen Kostpröbchen noch andere, subtilere Beilagen: Selbsthass und Neid etwa. „Hier bei mir“; rief sie zum Schluss im besten Marktschreier-Ton, „gibt es jetzt 100 % Rabatt auf Selbstliebe. Das hilft nämlich wirklich gegen alles!“ Ihr Lohn war Platz zwei.

Sandra da VinaSandra da Vina

Sebastian23 kam in seiner zweiten Performance etwas schwer in Gang. Vielleicht wollte er zu viel. Zu viele Gags und zu viel Leichtigkeit gegen den ersten, schwerwiegenden, grandiosen Text. Doch nun lachte er als erster über die eigenen Witze, hätte sich vielleicht nur ein wenig gedulden müssen, denn die Geschichte über den Versuch, surfen zu lernen, verfing dann doch noch.

Aber beim TED-Entscheid – und damit sind wir wieder beim sympathischen Stil der Slamarama-Macher – spielte Sebastian keine Rolle mehr. Der Lübecker „Hand-TED“ ist eine längst legendäre Art, den Sieg bekanntzugeben. Dabei malt Daniel Groß zwei parallel laufende Linien für die beiden Preisverdächtigen – bis eine Linie plötzlich endet und die andere den Gewinner markiert. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, dass einer mal darüber slamt.

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

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