Heinz Strunk, Foto: (c) Dennis Dirksen

Herbstzeit - Lesezeit
Neue Bücher aus dem Herbst 2023

Bewußtseinserweiternder Stoff, Skurriles, Humorvolles, Politisches, Feministisches und eine tragikomische Wiederentdeckung. Der Bücher-Herbst bietet alte Bekannte, Diskussionsstoff zum aktuellen Streitpunkt der Cannabis-Legalisierung, bitterböse Alltags-Geschichten, eine Emanzipationsgeschichte aus den 50er Jahren und eine anrührend komische Geschichte über das Sterben.

Beginnen möchte ich mit Heinz Strunk, den der Spiegel-Kritiker Björn Hayer für den momentan anregendsten Erzähler der deutschen Gegenwartsliteratur hält. Was mit „Fleisch ist mein Gemüse“ begann und sich mit so erfolgreichen Romanen wie „Der goldene Handschuh“ und „Ein Sommer in Niendorf“ fortsetzte, war anscheinend nur ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des handwerklichen Könnens des Autors, Musikers, Satirikers und Schauspielers Heinz Strunk. Mit jedem seiner mittlerweile 11 Büchern bekommt seine schriftstellerische Handschrift und seine Erzählkunst schärfere Konturen. Jetzt hat er mit „Der gelbe Elefant“ einen Band vorgelegt, der äußerst diverse, kurze und längere Texte aus dem Strunk-Kosmos versammelt. Die sind teilweise tragisch, bitterböse, traurig, aber meistens nur urkomisch. Wie immer bei ihm geht es um die brüchige Welt des Alltags, den großen Lebensekel des Durchschnittsbürgers und das Elend des Nachbarn von nebenan. Mal sind es kleine Skizzen, kurze Erzählungen, Auszüge aus E-Mail-Korrespondenzen, dann aber auch richtige Kurz-Geschichten. Die Grundstimmung ist düster bis grotesk, zynisch bis in den Tod.

Dabei geht es fast schon Loriot-artig los mit der „Kroketten-Geschichte“, wo eine sich anbahnende Urlaubsbekanntschaft auf dem Weg in die Freundschaft in einem griechischen Restaurant daran scheitert, dass die „Kroketten aus sind!“. Nie läuft es so richtig rund bei den Gescheiterten, den ewigen Loosern, den Menschen zwischen Fettsucht, Alter, Verfall und Tod. Das ist mitunter richtig lustig, steigert sich über das Absurde aber auch manchmal in eine Welt von Gnadenlosigkeit und Kälte. Ein böses Beispiel ist die kurze Geschichte „Och Nö“, die zwischen Doppelkorn und Blutrausch eines wildgewordenen Kampfhundes changiert. Da zerbeißt der gnadenlose Terrier eines kaputten Alkoholikers das Gesicht eines 14jährigen Jungen, woraufhin dem Besitzer nur ein schnödes „Ach Nö“ und die nächste Flasche Korn zum Exen einfällt - ganz schön bitter und zynisch.

Eher gesellig komisch sind dann wieder die kurzen Stories über DJ Bobo in Weiershausen oder die Gesellschaft für rituellen Altersuizid. „Freiwillig über die Klippe“ ist eine gruselige Zukunftsvision als „Exposé für einen Roman“, in der eine radikale Partei mit einer angeblich von Wikingern praktizierten Methode der Überalterung der Gesellschaft begegnen will. Ein böser Zukunfts-Entwurf noch jenseits der AFD, der schaudern macht.

Aber an manchen Stellen blitzt dann wieder das Urkomische durch, für das wir Heinz Strunk so lieben. Zu herrlich und absurd kommt seine Tierschützer-Geschichte „Haltungsstufe II“ daher, in der der radikale Tierschützer Freddy die Idee hat, die übelsten Schlachthofbesitzer zu entführen, um sie drei Wochen unter Bedingungen leben zu lassen, die der Stallhaltung plus (Haltungsstufe 2) für Tiere entspricht. „Das ganze wird per Real Animal Camp per Livestream ins Netz gestellt“. Aber im Gegensatz zur realen Rinderhaltung, wo Kühe mit Mozart, Bach oder Beethoven beschallt werden, damit sie mehr Milch geben, bekommen die industriellen Tierquäler ätzenden Unterhaltungsschlager auf die Ohren. „Ein bisschen Spass muss sein!“

Heinz Strunk: Der gelbe Elefant, Rowohlt-Verlag, Hamburg, Juli 2023, 208 Seiten, Amazon.

Weiter geht’s mit Humor. Diesmal vom Meister des philosophischen Unterhaltungsroman, Linus Reichlin, den ich hier schon mehrfach vorgestellt habe, unter anderem mit „Keiths Probleme mit dem Jenseits“ rund um den ewigen Untoten der Rolling Stones. Diesmal geht es um die eigenen Wahrnehmungen, bewußtseinserweiternden Stoff, einen sprechenden Hund und eine abenteuerliches Reise, die schließlich nach Florida führt. Held der Geschichte ist Felix Sell, ein freischaffender Landschaftsgärtner, der durch nächtliche Baumschädigungs-Aktionen dafür sorgt, dass gut zahlende Klienten freie Sicht haben. Als pragmatisch denkender Fast-Rentner schätzt er zum Beispiel beim Kauf eines neuen Regals ein, ob das Preis-Leistungs-Lebenserwartungs-Verhältnis stimmt.

Als er eines Tages beim Aufräumen seiner Plattensammlung im Cover von Deep Purple zwei alte LSD-Trips findet, zögert er nicht lange und wirft sie ein. Er hat schließlich nichts zu verlieren. Doch dann plötzlich kratzt etwas an seiner Tür und verlangt Einlass. Ein Jack-Russell-Hund, der nur Englisch spricht, flitzt in seine Wohnung. Felix fragt sich natürlich, ob das mit den Trips zu tun hat, oder ob da jemand an ihm ein auf künstliche Intelligenz getrimmtes Tier angesetzt hat. Als dann auch noch zwei, offenbar echte Verfolger in seine Wohnung eindringen, wird es für ihn und den Hund Zeit, das Weite zu suchen.

Sie machen sich gemeinsam auf eine irrsinnige Flucht zwischen vermeintlicher Einbildung und schräger Realität von Berlin über die Schweiz bis nach Florida. Bei seiner Schwester in Tesserete im Tessin kann er zwar untertauchen, aber gleichzeitig verstrickt ihn diese Simona in obskure Verschwörungstheorien. Dazu nöhlt Hobo, der englisch sprechende Hund die ganze Zeit rum, dass er endlich zu seinen Freunden nach Hause will. Außerdem winkt ihm dann sogar ein fetter Finderlohn im mehrstelligen Bereich. Reichlin schafft es mal wieder, einen reichlich schrägen Roman vorzulegen, der Suchtpotenzial hat. Seine Vexierspielchen mit der Wirklichkeit oder deren vermeintliche Wahrnehmung sorgen für viel Verwirrung bei den Protagonisten wie beim Leser. Dazu kommt wie immer in seinen Romanen eine reichliche Prise Humor und Musik, sowie Philosophie zwischen Drogenkonsum und künstlicher Intelligenz hinzu.

Linus Reichlin: Der Hund, der nur Englisch sprach, Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln, August 2023, 320 Seiten, Amazon.

Mit Humor und Philosophie, aber vor allem mit dem Konsum von Marihuana hat unser nächster Autor auch viel am Hut. Der ewige Hippie und Reisejournalist Helge Timmerberg ist bekennender Kiffer seit mehr als 50 Jahren. Jetzt hat er sich mal wieder auf eine weltumspannende Reise gemacht, um seinen Beitrag zur gegenwärtigen Legalisierung-Diskussion bezüglich von Cannabis zu leisten. Natürlich steht er dabei für die „Legalize it“-Fraktion, denn selbstverständlich lässt er sich von alten, weißen Alkoholikern nicht seinen täglichen Joint verbieten. Trotzdem versteht sich Timmerberg nicht als Missionar für Cannabis. In seiner gewohnt lässigen, humorvollen Weise schreibt er einfach darüber, wann ihm ein Joint besonders beim Schreiben hilft und wann er ihm schadet - und vor allem warum das niemanden etwas angeht als ihn selbst.

Zunächst beschreibt er, wie es überhaupt dazu kam, dass die älteste bekannte Heil- und Nutzpflanze Hanf trotz aller bekannt positiver Wirkung auf Körper und Geist vor allem in den USA verteufelt und gehasst wurde. Dann rekapituliert er, wie häufig er schon mit einem Fuß irgendwo im Gefängnis saß, weil er als bekennender Kiffer vielerorts einfach nur ein Krimineller ist. Aber es geht ja heutzutage auch anders. Also macht er sich auf den Weg in Länder, wo die Rauchdroge bereits legal ist. Das kleine Malta im Mittelmeer war zum Beispiel das erste europäische Land, das den Konsum von Cannabis legalisierte. „Kiffen ohne Kifferängste“. „Auf Malta wird die gute alte Paranoia zum Phantomschmerz“; und das ist den Kreuzrittern zu verdanken, die nicht nur Valetta, die Insel-Hauptstadt errichteten, sondern auch aus dem Orient das Haschisch mitbrachten.

Weiter geht es an den Rhein, wo er das ehemalige Kloster von Hildegard von Bingen besucht, die Jesus-Visionen auf Dope hatte, dann nach Amsterdam in seine Kiffer-Frühzeit, als er die ersten Coffee-Shops besuchte und im Paradiso ein Konzert von Steppenwolf besuchte. Ein weiterer wichtiger Ort, wo er früher jahrelang selbst gelebt hat, ist Marokko. Dort besucht er die Haschischbauern im Rif-Gebirge und stellt sich verwundert die Frage, wie es sein kann, dass er mit seiner Drogenerfahrung trotzdem beim Keksgenuss eine THC-Überdosis erwischen kann. Über Mallorca reist er dann nach Thailand, wo man früher noch für einen Joint jahrelang im berüchtigten Drogenknast von Bangkok landen konnte. Selbst die Todesstrafe war nie weit weg.

Aber heute wurde selbst dort die frühere Drogenpolitik völlig über den Haufen geworfen, weil man nach dem rasanten Niedergang des Tourismus in Corona-Zeiten dringend wieder junge Leute aus aller Welt anlocken will. Dementsprechend schießen in der Khaosan-Road in Bangkok, wo man früher gefälschte CD´s und Journalistenausweise kaufen konnte, die Marihuana-Shops aus dem Boden. „Das Körnchen Haschisch macht dich zum Weisen, das Körnchen zu viel zum Esel“, weiß der Autor von einem alten Perser, aber was heute in Thailand mit neuen Züchtungen abgeht, erschreckt auch den Alt-Kiffer. „12 Milligramm THC machen dich zum Kreativen, 15 sind okay, aber bei 20 Milligramm THC beginnt das Niemandsland zwischen psychoaktiv und psychotisch, in diesem Grenzgebiet lauert die Paranoia“. Andererseits ist die Legalisierung der Droge in den USA ein Riesengeschäft, das über 500.000 neue Arbeitsplätze geschaffen hat, es aber trotzdem in L.A. eine immens wachsende Anzahl an Obdachlosen und gesellschaftlicher Verwahrlosung gibt.

Mit all seinen Reiseberichten und persönlichen Erfahrungen kann Timmerberg sicherlich einerseits zur Diskussion über die diesjährige Legalisierung von Cannabis durch die Bundesregierung beitragen, andererseits hat er trotzdem kein nüchternes Sachbuch geschrieben, sondern unterhält aufs Köstlichste mit seiner Lässigkeit und seiner Lebenserfahrung. Er ist ein alter, weiser Mann, der selbst durch eigene Entzugsprobleme gegangen ist, aber trotzdem einen entspannt lockeren Plauderton wählt, um ein wenig die Aufgeregtheit aus der Diskussion zu nehmen. Bei ihm siegt Pragmatismus gegenüber dem typischen deutschen Zeigefinger: „Schaut her, so ist das Kifferleben“.

Helge Timmerberg: Joint Adventure, Piper Verlag München, August 2023, 256 Seiten, Amazon.

Mit „Der Frühling ist in den Bäumen“ hat die 1965 in Konstanz geborene Schriftstellerin und Architektin Jana Revedin, die aber auch als Professorin der Architektur in Paris lehrt, nun ihren vierten biografischen Roman vorgelegt. Alle Bücher wurden Bestseller, wie der von 2018 über Ise Frank, der Ehefrau von Walter Gropius: „Jeder nennt mich hier Frau Bauhaus“. Auch der Roman „Flucht nach Patagonien“, den ich 2021 hier vorgestellt habe über den Pariser „Designer der Leere“ Jean-Michel Frank und seine Mäzenin Eugenia Errazuriz war ein großer Erfolg und Sittenbild einer Epoche.

Ihr neuestes Buch erzählt wieder die Geschichte einer Frau, nämlich ihrer eigenen Mutter, ein Frauen-Schicksal aus den reaktionären 50er Jahren. Renina Revedin ist 24 Jahre alt und die jüngste Assistentin von Martin Heidegger, als sie 1953 in Konstanz am Bodensee dabei ist, die erste Frauenzeitschrift Deutschlands zu gründen. In Zeiten beängstigender politischer Restauration will sie sich mit ihrer „Lady“ für ein neues Rollenverständnis der Frau einsetzen. Doch neben den finanziellen Problemen und dem vielseitigen Widerstand konservativer und patriarchalischer Kreise muss sie sich hauptsächlich gegenüber ihrem Ehemann Fred Dietrich durchsetzen. Der ist nicht nur Doktor der Atomphysik, sondern auch der Neffe von Marlene Dietrich. Aus einer jugendlichen Laune heraus hatte Renina ihn geheiratet und war schnell in eine toxische, gefährliche sexuelle Abhängigkeit geraten.

Die eheliche Problematik eskaliert förmlich an einem Tag, als Renina sich gerade die Solidarität und Hilfe von verschiedenen Freundinnen und der eigenen Familie zum Aufbau der Frauenzeitschrift gesichert hatte. Sie erwacht in ihrem Hotelzimmer mit Schmerzen im Genitalbereich neben zwei fremden Kolleg/innen ihres Mannes und kann sich an nichts erinnern. Wie schon einige Tagen zuvor hatte sie ähnliche Situationen, die sie sich nicht erklären konnte. Ihr gefühlskalter Ehemann hatte sie anscheinend mit K.O.-Tropfen betäubt und dann an Kollegen von sich, mit denen er gerade auf einem Physiker-Kongress in Konstanz war, für sexuelle Spielchen weiter gereicht.

Auch als sie ihn zur Rede stellt, versucht er sie noch zu beschwichtigen und als prüde darzustellen, was sogar noch zu einer weiteren Vergewaltigung führt. Mit seiner männlichen Arroganz und Selbstverliebtheit sieht er sich sogar noch im Recht als Ehemann. Dass er ihre eigenen Wünsche und Träume sowieso nie Ernst genommen hatte, wird ihr daraufhin schlagartig bewußt. Sie flüchtet vor ihm, nachdem sie ihm mitgeteilt hat, sich von ihm zu trennen und sich scheiden lassen zu wollen, was zur damaligen Zeit äußerst schwierig für Frauen war. Vor der vermeintlich malerischen Kulisse des Bodensees und der gesellschaftlichen Ereignisse des Tages mit einem Mozart-Konzert mit einer elfjährigen japanischen Klavier-Virtuosin entscheidet sich ihr folgendes Leben, das förmlich am seidenen Faden hängt.

Wieder gelingt es Jana Revedin einen Roman vorzulegen, der sowohl das Schicksal einer einzelnen Person, diesmal ihrer Mutter, als auch einer gesamten Epoche spiegelt. Die reaktionären 50er Jahre sind noch im Sog der NS-Diktatur mit ihren überkommenen Rollenbildern und den Gefahren eines erneuten Aufkeimens extremer Kräfte verfangen. Anhand dieses persönlichen Frauenschicksals erzählt sie mitreissend, wie einzelne Frauen es schafften, sich zu wehren und die Solidarität ihrer Geschlechtsgenossinnen zu gewinnen. Natürlich gibt es im Laufe der Geschichte wieder ein vielfältiges name-dropping der verschiedensten Berühmtheiten der Zeit, wie Marlene Dietrich, Hannah Arendt, Christian Dior oder Yves Saint-Laurent. Dazu spielt die Musik von Cole Porter den Sound der Stunde, während man über die Klaviermusik von Mozart schwelgt.

Jana Revedin: Der Frühling ist in den Bäumen, Aufbau-Verlag, Berlin August 2023, 251 Seiten, Amazon.

Mein letzter Buchtipp für heute ist eine Wiederentdeckung aus dem wunderbaren Mare Verlag für seine bemerkenswerte Klassiker-Reihe, die mit Leineneinband und im Schuber daherkommt. Es geht um den Roman „Gentleman über Bord“ des amerikanischen Journalisten, Drehbuchautors und Schriftstellers Herbert Clyde Lewis aus dem Jahre 1937, der fast ein Jahrhundert lang weitgehend unbeachtet geblieben ist. Jetzt ist er erstmals in einer Übersetzung von Klaus Bonn und mit einem Nachwort von Jochen Schimmang auf Deutsch erschienen.

Der Hauptstrang der Story ist schnell erzählt: Ein gutsituierter New Yorker Geschäftsmann hat eine mentale Lebenskrise, trotz angesehenem Job, einer wunderschönen Frau und zwei Kindern. Um den Alltag hinter sich zu lassen, um zu gesunden, begibt er sich auf eine Monate-lange Schiffsreise von New York über Hawaii bis Panama. An Bord des Frachtschiffes Arabella stürzt er unglücklicherweise morgens um fünf Uhr ins Meer, ohne dass irgendwer es bemerkt. Was folgt ist ein Spiegelbild der 30er Jahre in den USA. Eine Mischung aus Tragik und Komik, die der Protagonist, der erfolgreiche und distinguierte Börsenmakler Henry Preston Standish förmlich auf einer Bananenschale, (die in Wirklichkeit ein Ölfleck war), ausrutschen lässt, um im Ozean zu landen.

Die Umstände dieses Unfalls sind für Henry so ungehörig, dass er es nicht einmal wagt, lauthals um Hilfe zu rufen. Außerdem macht er sich nicht ernsthaft Sorgen um sein Leben, weil er einerseits ein ausgezeichneter und fitter Sportler und Schwimmer ist, aber auch gleichzeitig überzeugt davon ist, dass sein Verschwinden von Bord sofort auffallen muss und seine zeitnahe Rettung zur Folge haben sollte. Unser Held Standish ist ein Mann, der buchstäblich aus der Welt fällt. Seine Welt war zwar öde, aber geregelt, sowohl seine geschäftliche wie seine private. „Er trinkt und raucht, aber mäßig, und er schläft mit seiner Ehefrau ebenfalls mäßig aber regelmäßig. Die klassische Familie (Ernährer, Ehefrau, zwei Kinder) in ihrer Vierzimmerwohnung am Central Park.

Die von Lewis beschriebene Seefahrt ist überhaupt nicht lustig, dafür aber sehr lakonisch und tragikomisch. Während der Held dem Untergang geweiht ist, siegt das Triviale. Ein demnächst Ertrinkender ist umgeben von Wasser - und hat Durst. Der Ozean, die Quelle des Lebens, wird zum Wasser-Sterbebett eines kerngesunden Mannes, der verdammtes Pech hatte und dem seine Herkunft im Wege steht, sich zu retten. Hinzu kommt eine Gesellschaft (in Form der Besatzung und der wenigen Passagiere), deren Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit, Dummheit, Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Desinteresse am Mitmenschen dazu führt, dass neben dem Pech auch noch die Untätigkeit aller anderen eine Rettung verhindert.

Die Besatzung und die weiteren Gäste sind Meister der Verdrängung und des bewußten Wegsehens. Darüber hinaus glauben sie zu wissen, dass ein Mann wie Standish niemals in den Ozean stürzen würde und wenn dann nur in selbstmörderischer Absicht. Auch die Schuldige am Suizid ist schnell gefunden, nämlich die fremdgehende Ehefrau, die ihn zunächst auf diese seltsame Schiffsreise getrieben hatte und schlussendlich in den Selbstmord.

Während der um sein Leben kämpfende Standish ständig zwischen Hoffnung, Panik, Wut, Scham, Euphorie und Ergebenheit mit seinem Schicksal hin und her wechselt, wird ihm langsam klar, wie kostbar das Leben eigentlich ist „Liebe, Geld und Ruhm sind ein Schwindel, wenn man es mit der bloßen Güte verglich, einfach nicht zu sterben“. Eine wunderbare Wiederentdeckung des Romans, der zeigt, wie anrührend das Sterben sein kann, aber gleichzeitig die komischen Seiten des Todes nicht verleugnet.

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord, Mare-Verlag Hamburg, 2023, 176 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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