Ein Nachruf: „Die verstorbene Senatorin Mann war einst die schönste Frau Lübecks und noch in vorgerückten Jahren mit dem welligen weißen Haar und der aufrechten schlanken Gestalt eine wundervolle Erscheinung.“
Der Verfasser war Ludwig Ewers, ein Freund Heinrich Manns aus Schultagen und bis zum Lebensende ein intensiver Briefpartner Julias. Geboren wurde sie 1851 als Julia da Silva-Bruhns auf dem Weg nach Parati mitten im brasilianischen Urwald und sie starb im März 1923 in einer Pension des Dörfchens Weßling in der Nähe Münchens.
Julia Manns Vater Ludwig Bruhns war Mitglied der Lübecker Weinhändlerfirma Bruhns, wanderte in jungen Jahren aus Übermut und Abenteuerlust in das noch junge Kaiserreich Brasilien aus und entwickelte sich dort wirtschaftlich erfolgreich als Plantagenbesitzer, Kaffee- und Zuckerhändler und handelte wahrscheinlich auch mit Sklaven. (Das jedenfalls behauptet ein Kenner der brasilianischen Geschichte, der das Buddenbrookhaus wiederholt besuchte in den letzten Jahren.)
Dem groß gewachsenen, blonden Ludwig − in Brasilien erhielt er den Spitznamen „Germano“ − gelang es, die Tochter eines etablierten portugiesischen Plantagenbesitzers für sich zu begeistern und hatte mit seiner Maria da Silva, ihre Mutter war eine Kreolin, fünf Kinder, die mutterlos wurden, als Maria bei der Geburt des sechsten Kindes starb. Ludwig Bruhns entschied, seine Kinder in Lübeck erziehen zu lassen und so kamen sie 1856 in der kleinen alten Stadt an: fünf Kinderlein aus dem Urwald, begleitet von der schwarzen Kinderfrau Anna.
Julia fand nach schweren inneren Erschütterungen Anschluss in der neuen Umgebung. Ihr seelischer Anker war die Mutter des Vaters Ludwig, Marie Louise Bruhns, geborene Sievers. Die Lübecker Bruhns bewohnten zu der Zeit ein schönes Anwesen in der Parade, eine modernisierte ehemalige Domherrenkurie mit großem Garten und weitem Blick über die Dächer des Domviertels über die Obertrave Richtung Westen hinaus.
Und dann war da das Mädchenpensionat der Therese Bousset, in dem Julia zur Lübecker Dame erzogen wurde. (Wie gerne wäre sie Schauspielerin geworden…!) Der Vater kam jährlich mindestens einmal aus Südamerika zu Besuch und wohnte dann im Haus an der Parade. Dort fand 1868 die Heirat von Julias Schwester Mana statt, 1869 die Heirat von Julia selbst mit „Henri“ Mann, damals noch Konsul, und 1871 die Taufe von Heinrich, ihrem Erstgeborenen.
Julia Manns Biografin Dagmar von Gersdorff lässt vor den Augen der Leser ihres im Herbst 2018 erschienenen Buches jene glanzvolle Zeit auferstehen, als die aparte Deutsch-Brasilianerin an der Seite ihres Ehemannes Thomas Johann Heinrich Mann zum Anziehungspunkt einer künstlerisch aufgeschlossenen Stadt-Gesellschaft wurde, anziehend durch ihr kunstvoll beherrschtes Klavierspiel, ihre ausdrucksstarke Gesangsstimme, ihrem literarischen Horizont sowie ihrem feinen Takt im Umgang mit Menschen.
Im großen Festsaal des „roten Hauses“ in der Beckergrube wurden Maskenbälle gegeben, Soireen veranstaltet mit Musikern des städtischen Orchesters. Man könnte meinen, Senator Mann habe das 1882 neu erbaute Stadtpalais nur für sie eingerichtet. In stillen Stunden las die Mutter von Heinrich, Thomas, Julia und Carla ihren Kindern vor: Märchen, Erzählungen, Gedichte, Plattdeutsches. Und sie führte sie ein in die Welt des deutschen Kunstlied-Gutes der Klassik und Romantik.
Nach dem überraschenden und viel zu frühen Tod ihres Ehemannes im Oktober 1891 im Alter von nur 50 Jahren verließ die verwitwete Frau Senatorin Mann sehr bald die „spitzmäulige“ Trave-Stadt, wie Thomas Mann sie im hohen Alter einmal liebevoll nannte. Sie nutzte die günstige Gelegenheit und schloss sich einer befreundeten Familie an, die 1893 in das künstlerisch aufblühende München übersiedelte.
Dagmar von Gersdorff gelingt es, durch umsichtiges Weglassen von Nebengeschichten, Anekdötchen, ausufernder Vielwisserei und dem sparsamen Einsatz von Blickwechseln auf die Äußerungen von Freunden, Verwandten sowie die literarischen Texte der Söhne Julias, das Porträt einer sehr besonderen Persönlichkeit zu entwerfen: in sich ruhend, sicher im Auftreten in großen Gesellschaften, anerkannt und gesucht wegen ihrer Menschenkenntnis.
Von diesem Bild finden wir in Thomas Manns Texten wenig, bei Heinrich jedoch viel mehr, schließlich widmete er der mütterlichen Sphäre zwei Romane. Was Heinrich u. a. faszinierte, war die Identität seiner Mutter zwischen den Kulturen, etwas Drittes zwischen brasilianischer Herkunft und deutscher (richtiger wohl: lübeckischer) Erziehung. Auf die mehr als drei Jahrzehnte Lebenszeit in der Hansestadt folgten für Julia weitere dreißig Jahre in München.
Gut ausgestattet durch die Zinseinkünfte ihrer solide angelegten Kapitalien konnte sie standesgemäß wohnen mit vielen Zimmern und ausreichend Personal – Mittelpunkt eines Salons für junge Künstler. Sie ahnte von Anbeginn das drohende Unheil in den Lebensentscheidungen ihrer Töchter Carla (Schauspielerin, sie nahm sich 1910 das Leben) und Julia („Lula“, sie heiratete nach dem „Lebensmodell Lübecker Senatorin“ einen Bankdirektor aus finanziellen Erwägungen, versank in Drogenkonsum und Nebenbeziehungen).
Sie las mit stolzer, nichtsdestoweniger kritischer Anteilnahme jeden Text ihrer beiden Söhne, und sie widmete sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit erheblichem Aufwand an Zeit und Wohnungswechseln der Ausbildung ihres jüngsten Sohns Viktor, geboren 1890, auch er ein geborener Lübecker, dem die Stadt einen wunderbaren Reisebericht über seinen Besuch im Jahr 1917 verdankt. In den Sommermonaten besuchte sie oft Lübeck, sah ihre Schwester Mana Stolterfoht und genoss den Ostseestrand bei Laboe.
Dagmar von Gersdorff ist eine Biografin von Format, (zur Lektüre empfohlen sei hier ihr erstes Buch von 1984 über die Schriftstellerin Sophie Brentano-Mereau), sie versucht weder, „das Wesen“ Julia Manns psychologisch zu deuten, noch wirft sie enthüllungsvernarrte Blicke auf bisher verborgen gebliebene letzte Geheimnisse der Porträtierten.
Am beeindruckendsten gelingt ihr nach meinem Urteil das Schlussbild. Da war zunächst der festlich gestaltete 70. Geburtstag 1921. Auch ein wohlhabender Kaufmann und hoch angesehener Bürger aus Riga war Gast im großen Familienkreis, Paul Stolterfoht, Julias erster Geliebter, den sie 17-jährig vom Fleck weg geheiratet hätte, aber der Vater, der große Ludwig, hatte es strengstens untersagt. Und dann kam das Jahr 1922 und Julia erlebte die Versöhnung ihrer verfeindeten Söhne Heinrich und Thomas, beide inzwischen literarisch erfolgreich und finanziell gut ausgestattet.
Mit Beginn des Jahres 1923 fühlte Julia sich dann wie überflüssig, abgeschoben aus der Nähe von Kindern und Enkeln, aber sie war auch schwer bronchial erkrankt. In einer kleinen Pension in einem Dörfchen mit Namen Weßling scheint sie im März des Jahres ihr Ende geradezu selbst inszeniert zu haben, überliefert ist ihr Ausspruch: „Aber ich möchte Euch alle noch einmal sehen.“ Man rief die Kinder dringlich herbei. Viktor Mann schrieb später: „Mama lag hochgebettet und lächelte mich mit verfallenem Gesicht froh an.“ Sie habe zuletzt mit deutlich portugiesischem Akzent gesprochen, Viktor: „Mama hatte immer rasch und in reinem Hochdeutsch mit leicht lübeckischem Tonfall gesprochen, jetzt sprach sie langsam, in viel dunklerer Färbung, mit stark rollenden R-Lauten. (…) Und nun, beim Sterben, war der Klang von ‚drüben‘, vom bunten Sonnenland wieder da.“ Ihm sei es vorgekommen, als sei sie „in ihre Kindheit zurückgekehrt, in die Heimat, die ihr gefehlt hat mit dem ‚Klang von drüben‘“.
Das Dorf Weßling und die kleine Pension waren Julia von einem befreundeten bildenden Künstler, Leo Prutz, empfohlen worden. Von Gersdorff schreibt: „Wie sehr der Künstler die Senatorin schätzte, beweist die Tatsache, dass er nach ihrem Tod ihren brasilianischen Spuren folgte (…) Er besuchte die Orte ihrer Kindheit in Angra dos Reis und Parati: ‚Der erste Eindruck war Rausch. Geschlagen von der Farben- und Formensinfonie dieser Welt, suchte ich stammelnd das Gesehene zu verarbeiten.‘ schrieb er und erinnerte sich an ihre Schilderungen von der unglaublichen Farbenpracht ihrer Heimat.“ Die damals entstandenen Bilder hängen heute in den großen Museen von Leipzig, München und Dresden, Budapest und Buenos Aires.
Nach Julia Manns Tod musste schließlich auch eine Wohnung in dem Dorf Polling aufgelöst werden, die Frau Senatorin eigens angemietet hatte, um all die Stücke aufzubewahren, die sie aus dem großen Haus in der Lübecker Beckergrube nach München mitgenommen hatte. Von Gersdorff schreibt: „Es existieren im Prager Literaturarchiv noch jene Listen an Möbel und Kleidungsstücken, die Viktor und Heinrich in der Pollinger Wohnung vorfanden (…) Eine von Heinrich eigenhändig erstellte Liste bezeichnet alles, was er und Mimi von den Sachen übernahmen (…) die Etagere mit des Vaters Zigarrenkiste (…) die Kristallkaraffe, die Therese Bousset der Mutter zur Hochzeit geschenkt hatte …“
Aus den Schlusskapiteln der Biografie der Dagmar von Gersdorff entnehme ich ein Bild: Julia Mann im Kreis ihrer Münchner Familien ist darin so etwas wie die Repräsentantin einer spezifisch lübeckischen Lebenskultur des 19. Jahrhunderts geworden, nobel, feinsinnig, zurückhaltend, konservativ, aufgeschlossen für Neues und Fremdes, eingefärbt mit einem lockenden „Klang von drüben“. Internationalität und Interkulturalität waren etwas, das den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg bis zur deutschnationalen Wende um 1890 eine besondere Attraktivität verlieh.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eine Formulierung der vormaligen Leiterin der Monacensia, das ist der Name des bayerischen Literaturarchivs in München, bei einer vorbereitenden Sitzung für die Neugestaltung des Buddenbrookhauses. Auf die Frage, was die „Nordlichter“ für München, für Bayern bedeuteten, antwortete Frau Dr. Elisabeth Tworek: „Die Nordlichter, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu uns kamen, insbesondere Heinrich und Thomas Mann, trugen eine Aura von Weltläufigkeit mit sich, die es hier nicht gab und die faszinierte.“ Die umsichtige, kluge, zurückhaltende, viel Raum für Deutungen zulassende Schreibweise der Dagmar von Gersdorff lässt die Fantasie zu, sie habe eine Biografie über Julia Mann schreiben wollen, wie diese selbst mit Taktgefühl das Porträt einer für sie bedeutenden Persönlichkeit gezeichnet haben würde.
Dagmar von Gersdorff: Julia Mann. Die Mutter von Heinrich und Thomas Mann, Insel Verlag, Oktober 2018, 335 Seiten, Amazon
Hinweis: Das Museum Buddenbrookhaus und dessen Förderverein haben Dagmar von Gersdorff zum Vortrag mit Lesung eingeladen. Es handelt sich dabei um eine Begleitveranstaltung der wieder eröffneten Jubiläumsausstellung „Herzensheimat“.
Autorenlesung: Dagmar von Gersdorff – "Julia Mann: Die Mutter von Heinrich und Thomas Mann"
Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.
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