Walter Benjamin war ein großer Schriftsteller und ein leidenschaftlicher Reisender dazu. So war er vielleicht nirgendwo mehr er selbst als in seinen Schilderungen großer und kleiner Städte. Jetzt ist eine kluge Zusammenstellung seiner Miniaturen, Erinnerungen und kulturgeschichtlichen Essays erschienen.
Es geht Benjamin um Städte und Architekturen, und wenn man alle Teile zusammennimmt, bietet das Buch die Fragmente einer Philosophie des Wohnens, seinem „Lieblingsgegenstand“.
Das Besondere dieser Edition besteht in den beigefügten 80 Illustrationen, denn der Herausgeber hat Postkarten aus den Städten, über die Benjamin Reportagen schrieb oder in denen er gearbeitet hatte, in Briefmarkengröße neben dem Fließtext abgebildet und präsentiert sie ein weiteres Mal maßstabsgerecht im Anhang. Selbstverständlich sind es Schwarzweißbilder, aber das Wesentliche an ihnen ist nicht ihr ästhetischer Reiz, sondern der Zusammenhang mit der Person des Autors Benjamin und dessen Arbeiten.
Während das erste von vier Kapiteln Berlin gewidmet ist, das zweite Paris, handeln die Kapitel drei und vier von „Orten im Süden“ und „Orten im Norden“, zum Beispiel von Marseille und Neapel, Riga und Moskau. Alle diese Essays und Buchausschnitte bieten eine eigenwillige und reizvolle Mischung aus Soziologie, Kulturgeschichte und Gesellschaftskritik, die zusammen mit Benjamins oft sehr persönlichem, von Erinnerungen geprägtem Stil lebhafte und farbige Bilder evoziert. Es sind seine breite Bildung, die Vielfalt seiner Interessen und die Variation von Stil und Perspektive, die das Buch so interessant und belehrend machen. Texte für Kinder finden sich ebenso wie Ausschnitte aus wissenschaftlichen Arbeiten, und Journalistisches steht neben Poetischem oder philosophischen Reflexionen.
Das Berliner Kapitel enthält zwei Buchbesprechungen, in denen Benjamin seine außergewöhnliche Begabung als Rezensent demonstriert. Die erste dieser Arbeiten beschäftigt sich mit einem Buch seines engen Freundes Franz Hessel, und was er über diesen sagt, das gilt auch für zumindest einen guten Teil seiner eigenen Produktion: „Denn Hessel beschreibt nicht, er erzählt.“ Eben dies macht den Reiz von Berliner Kindheit um Neunzehnhundert aus, aus der es einige Abschnitte in diese Auswahl geschafft haben; alles ist aus der Sicht eines Kindes geschildert, klingt absolut wahrhaftig und unverstellt und ist deshalb atmosphärisch enorm dicht.
Gelegentlich allerdings ist seine Sprache auch rhetorisch aufgedonnert, zum Beispiel hier, wenn er die gipsernen Exzesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts feiert: „Unter dem plebs decorum der Kariatyden und Atlanten, der Pomonen und Putten, mit deren Entdeckung er den Leser hier aufnimmt, sind ihm die liebsten, doch jene einst herrschenden, nun zu Penaten, unscheinbaren Schwellengöttern gewordenen Figuren, die angestaubt auf Treppenabsätzen, namenlos in Flurnischen einquartiert, die Hüterinnen der rite de passage sind, die ehemals jeden Schritt über eine hölzerne oder metaphorische Schwelle begleiteten.“ Nicht oft ist Benjamins Sprache so schwelgerisch, auch so rhetorisch befrachtet, denn meist gilt das, was er an Hessel rühmt: Er beschreibt nicht, er erzählt.
Was er in dem Zitat beschreibt, ist der Gipsschmuck der Häuser, der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf eine immer schärfere Ablehnung stößt, und es ist vielleicht Ironie, dass Benjamins Stil hier ebenso blumig, ornamental und sogar angeberisch daherkommt, wie er selbst den Gipsschmuck empfand. In einem anderen Text spricht er sich unter der Überschrift „Erfahrung und Armut“ für die Nüchternheit aus. Den Eklektizismus des 19. Jahrhunderts führt er auf „Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt“ zurück, nennt diese Armut „Barbarentum“ und fordert, von Neuem zu beginnen. „Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.“ Es ist nicht schwierig, in diesen Sätzen das künstlerische Programm der Moderne zu entdecken.
Als sein Hauptwerk geplant und leider nie abgeschlossen war ein Buch über die Pariser Passagen, an dem er fast zwei Jahrzehnte gearbeitet hat. Selbstverständlich enthält dieses Buch auch zu diesem Projekt Texte, die Benjamin selbst als Exposé bezeichnete, die aber eher Kurzfassungen des geplanten Werkes mit sauber eingearbeiteten Zitaten und teils ausführlichen Interpretationen sind. Diese Abschnitte machen den größten Teil des zweiten Kapitels aus. Es sind Texte über das Paris des 19. Jahrhunderts, über seine Architektur und vor allem über den Flaneur, dessen Bild Benjamin aus Edgar Allan Poes berühmter Erzählung „The Man in the Crowd“ heraus entwickelt.
Zunächst ist es für Benjamin typisch, dass er von der Literatur ausgeht, nicht etwa von einem analytischen, vielleicht sogar wissenschaftlichen Text. Und auch nicht von der Kunst, etwa der realistischen oder impressionistischen Malerei, die nur gelegentlich angesprochen wird. Neben der Literatur ist für seine Methode der Soziologe Max Weber wichtig, der wohl als erster Autor bestimmte Idealtypen (den Politiker, den Protestanten) in den Mittelpunkt seiner Arbeiten stellte, indem er die in seinen eigenen Worten „einseitige Steigerung […] einiger Gesichtspunkte“ betrieb und so scharf gezeichnete Typen schuf.
Von Weber angestoßen, in dessen Heidelberger Wohnung sich die Professoren der Universität zu einem legendären Gesprächszirkel trafen, arbeiteten auch andere Autoren in dieser Weise, vor allem Karl Jaspers, der in seiner Psychologie der Weltanschauungen von 1919 eine Reihe „verschiedener Geistestypen“ unterschied, sowie dessen Schülerin Hanna Arendt, die in „Vita activa“ nicht mehr als drei Grundfiguren menschlichen Handelns benannte.
Schon früh erreichte diese Methode auch die Literatur, besonders in verschiedenen Schriften Ernst Jüngers, in „Der Arbeiter“ von 1932 oder „Der Waldgang“ von 1951. Und mit Jünger verband Benjamin doch einiges, obwohl charakterlich und politisch zwischen beiden Autoren Welten lagen. Benjamin war kein freischwebender Essayist wie Jünger, der seine irrlichternden Eindrücke in sehr persönlicher Weise verarbeitete, die immer auch auf seine Selbstdarstellung zielte – aber eben auch auf die Deutung ihrer Welt.
Jünger interessierte die Gegenwart, wogegen Benjamin das 19. Jahrhundert darstellte und ausdeutete. Zwei Jahrzehnte lang versuchte er sich an einem ganz einzigartig zwischen Wissenschaft und Literatur, zwischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte changierenden geschichtsphilosophischen Projekt, ohne es beenden zu können. So wurde es erst 1982, also vier Jahrzehnte nach seinem Tod, unter dem Titel „Das Passagen-Werk“ ediert: die Sensation jenes Jahres. Die in diesem Buch enthaltenen Ausschnitte machen den Leser mit dem Kern des schwierigen und umfangreichen Buches vertraut. Bereits ihretwegen lohnt sich der Kauf des Buches.
Anders als die vergleichsweise holzschnittartig argumentierenden Weber und Jaspers konzentriert sich Benjamin auf eine einzige Figur. Mit dem Flaneur schildert er die schillernde, uneindeutige Gestalt des Übergangs, eine ganz individuelle Figur, die es zuvor nicht gab und in der die Moderne in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein erstes Mal Gestalt annimmt. Für ihr Gemälde greift Benjamin auf eine ganze Palette von Mosaiksteinchen zurück, die er zu einem einzigen riesigen Bild zusammenlegt. Es finden sich Zitate aus der Dichtung, historische Zeugnisse aller Art und persönliche Beobachtungen, und alles verdichtet sich zu dem unerhört farbigen und interessanten Porträt einer Zeit und eines ganz und gar einmaligen Ortes.
Laut Benjamin versteht man in Paris und wirklich nur dort, warum und wie „der Flaneur vom philosophischen Spaziergänger sich entfernen und die Züge des unstet in der sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs bekommen konnte, den Poe in seinem ,Mann der Menge' für immer fixiert hat“. Dabei scheint es ihn nicht weiter irritiert zu haben, dass Poes Geschichte gar nicht in Paris spielt, wie der erste Satz seiner Ezählung deutlich sagt: „I sat at the large bow window of the D—Coffee-House in London.“
Benjamins Bild vom Werwolf deutet an, dass wir Heutigen den Flaneur, wie ihn Poe schildert – eine heimat-, ziel- und ruhelose Gestalt, die dem Autor zum Bild des Bösen selbst gerät – als eine frühe Form des Terroristen ansehen können. Vielleicht sollte man diese Texte – Poe, Baudelaire, aber natürlich auch Benjamin – noch einmal unter diesem Blickwinkel anschauen.
Zweimal erwähnt Benjamin den Maler Adolphe Monticelli, und an dieser Stelle nimmt er ein Motiv, aber auch den Ton seiner Kindheitserinnerungen wieder auf: „Das Licht von Grünkramläden, das in den Bildern Monticellis ist, kommt aus den Innenstraßen seiner Stadt, den monotonen Wohnvierteln der Eingesessenen, die etwas von der Traurigkeit Marseilles wissen.“ Hier hört sich Benjamin fast an wie Proust, aber nur zwei Seiten zuvor zeigt er sich ganz als Autor der expressionistischen Epoche: „Marseille – gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt. Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffskompagnien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze hervor. Der ist vom Zahnstein, der an den wuchtigen Kiefern festbackt: Zeitungskioske, Retiraden und Austernstände.“
Schon allein diese beiden Zitate zeigen, welches enorme stilistische Spektrum die verschiedenen Texte des Bandes entfalten; und sie deuten an, in welchen verschiedenen Weisen sich Benjamin den Orten genähert hat. Das zeigt sich schließlich auch oder sogar besonders an dem Moskauer Kapitel. Der Autor sympathisierte zwar mit den Sowjets, aber das hielt ihn nicht von luziden Beobachtungen, überraschenden Vergleichen und kritischen Bewertungen ab, aus denen ein ganz bemerkenswertes, atmosphärisch dichtes Bild Moskaus hervorgeht, das man in dieser Weise allein von ihm bekommen konnte. Das ist nicht allein aus zeitgeschichtlichen Gründen wichtig, sondern auch deshalb, weil die moderne Kunst in den ersten zehn, fünfzehn Jahren der Sowjetunion wichtige Anstöße erfuhr. Benjamins sensible Beobachtungen, seine Eindrücke von der Agitation und den Plakaten machen vieles an diesen Kunstwerken der jungen Moderne verständlich.
Walter Benjamin: Über Städte und Architekturen. Herausgegeben von Detlev Schöttker, DOM publishers, 30. Januar 2017, 224 Seiten.
Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Buchstabe und auf Amazon erhältlich.
Fotos: Dom publishers