Für Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow ist die riesige Halle ein Erzählraum, nicht nur eine Ausstellung, sondern auch eine Schule des Überlebens. Das vor gut 5 Jahren von den beiden Kuratoren Georg Diez und Nicolaus Schafhausen gestartete Kunstprojekt setzt dabei die Grundlagen des Lebens im 21. Jahrhundert in Zeiten von Polykrisen in den Mittelpunkt.
Anfänglich als spielerische Schau von Kunst und Kultur gedacht, haben die aktuellen Krisen der Welt, wie Corona, Klimawandel, Kriege in der Ukraine und in Gaza, das ursprüngliche Konzept total verschoben. Noch immer stehen die großen Fragen des Lebens im Mittelpunkt, aber Lösungen scheinen schwieriger erreichbar zu sein. Zwar hat die Kunst schon immer neue Horizonte eröffnet, sogar ganze Zeitspannen überblickt, wie zum Beispiel in Form des Epochenbildes (= alles in einem Bild), erklärt Luckow, aber die Lage ist ernst, wenn auch der Ansatz und Ton der Schau optimistisch bleibt.
Nach den Wünschen der Kuratoren sollen sich die Besucher auf eine Riesen-Entdeckungsreise begeben. Die Ausstellung ist aber nicht nur ein Erzählraum, sondern auch ein Raum für Praxis und Demokratie. Die Schau als Methode und Handlungsanweisung. „In der Polyphonie der Gegenwart, muss man Unsicherheit zulassen“, erklärt Georg Diez, „Es ist wichtiger Dinge zu tun, als nur zu denken“. Dementsprechend sind neben der ausgestellten Kunst, vor allem das Projekt der „School of Survival“ das zweite wichtige Standbein der Schau. Bis zum Ende der Laufzeit der Ausstellung sind über 100 Workshops, Seminare und Lectures mit Wissenschaftlern, Philosophen und verschiedenen Künstlern geplant. Denn in einer radikal komplexen Welt stellen sich grundlegende Fragen, die besprochen, diskutiert und zu neuen Ergebnissen geführt werden wollen.
Die Ausstellung will über die künstlerische Praxis hinaus Weltentwürfe zugänglich machen. Sie ist ein gesellschaftliches Angebot, gemeinsam und voneinander zu lernen. Das Museum wird zu einer Art Schule für das neue Jahrhundert, die den Wandel der Bildung und des Lernens als wesentlich ansieht und aufnimmt. Kunst ist das Medium, Überleben ist das Ziel. Aber was gibt es jetzt konkret an Kunst und Künstlerinnen zu sehen?
Anhand von unterschiedlichsten Fragen wie:
Was ist Gemeinschaft?
Was ist Schönheit?
Was ist Schicksal?
Was ist Wissen?
Was ist die Katastrophe?
Und viele weitere mehr, versuchen insgesamt 40 verschiedene künstlerische Positionen, Antworten zu finden.
Abbas Akhavan stellt zum Beispiel die Frage nach der Zivilisation. Dafür hat er die vom IS in Syrien in Palmira zerstörten Säulen und Triumphbögen neu erstellt und bereits in London und New York aufgestellt. Die fragmentierten Säulen sind aus Stroh und Lehm nachgebaut und stehen auf einem sogenannten „Green Screen“, um zu verdeutlichen, dass es nicht nur um Zerstörung, sondern auch um Macht und Wandel geht. Denn irgendwann zerfallen die neuen Säule einfach zu Staub.
Olaf Nicolai hat grell bunte Plakatsprüche aufgehängt, die zunächst wie PopArt wirken, deren Inhalt aber zu denken gibt. „Un Mondo Che Muore bedeutet nämlich auf Deutsch: Eine Welt, die stirbt“. Bunte Kunst ermutigt zu Hoffnung, anstatt nur zur Angst vor zum Beispiel der Klimakatastrophe. Was ist Kultur fragt sich Taus Makhacheva und zeigt ein Video, wo ein Mann auf einem Seil eine Schlucht zwischen zwei Gipfeln in Dagestan überschreitet (Titelbild), um Bilder und Kunst von einer Seite zur anderen zu bringen. Geht es um Erinnerung oder den Akt selbst?
Für Kontroversen dürfte die Arbeit der amerikanisch indigenen Künstlergruppe „New Red Order“ sorgen, die zwei Geister von Biber und Baum sprechen lassen. Sie witzeln über Kolonialismus und Massenausrottung von Natur und Tieren. Aber sie beziehen in einem roten Statement auch explizit Stellung zum aktuellen Gaza-Krieg, wo sie der Bundesrepublik Vorwürfe wegen der Bewaffnung und der einseitigen Stellungnahme zum Konflikt auf der Seite Israels machen. Vorsorglich hat sich die Deichtorhalle von dieser Meinung distanziert, betont aber gleichzeitig die Freiheit der Kunst.
Einfach galaktisch sind die Arbeiten von Charles Stankievech, der einen Meteoriten über schwarzen Sand schweben lässt, während Thomas Struth in seinen Hochglanzbildern die Verheißungen der Wissenschaft und Technik ablichtet, wie im „Cern-Labor“. Struth verbindet hier die Faszination für das, wozu der Mensch fähig ist, mit der Warnung, dass das alles zusammenbrechen könnte. So wie viele Zivilisationen vor uns zusammen gebrochen sind.
Man wird also als Besucher der Schau schon ziemlich gefordert, mitzudenken, neu zu denken oder sich auf andere Perspektiven einzulassen. Aber darüber hinaus gibt es auch einiges zu entdecken. Nicht alles ist Ernst, sondern macht auch Spaß. Also das Überleben im 21. Jahrhundert wird spannend.
Fotos: Holger Kistenmacher