Dr. Oliver Zybok (Jahresschau-Jury), Foto: Thomas Schmitt-Schech

Jahresschau der Gemeinschaft Lübecker Künstler 2019
Aktiv und streitbar

Wer wissen möchte, was Lübecker Künstler*innen umtreibt, sollte bis zum 29. September den Hafenschuppen 6 aufsuchen. Denn dort ist die Jahresschau der „Gemeinschaft Lübecker Künstler“ ausgestellt – ein (übrigens kostenloser) Besuch lohnt sich!

Ein formeller oder thematischer Rahmen ist bei der Jahresschau nicht vorgegeben, und hierin liegt ein besonderer Reiz: erfährt man doch sozusagen ohne Korsett, was den Einzelnen, die Einzelne beschäftigt.

Die Bedrängnis eines „Unsicheren Verstecks“ etwa lässt Peter Klimek in seiner abstrakten Komposition spürbar werden, während Raimund Palluseck in „In des Welt-Atems wehendem All, ertrinkend“ eine andere Art von Ausgeliefertsein darstellt. Mit „Fliehkraft“ beschäftigt sich Germa Ohlhaver, und es ist faszinierend, wie viel Irritation die dekorativen Ölgemälde beim zweiten und dritten Blick auslösen können.

Auch Gegenständlicheres wird gezeigt. Edith Holtz-Raber hat in zart anmutender Radierung Felsenklippen verewigt, die auch versteinerte Tierkörper sein könnten. Der unlängst verstorbene Walther Kunau fängt in seiner „Birken-Pastorale“ gleichsam das Lied der Bäume ein, während es Heiner Kühn die bunten Flickenteppiche der Felder und Wiesen „Vor der Stadt“ angetan haben.

Foto: Thomas Schmitt-SchechFoto: Thomas Schmitt-Schech

Vielfältige Landschaftsdarstellung

Überhaupt die Landschaften! Von realistischer Darstellung über digitale Verfremdung bis zur Konzentration auf Details sind alle erdenklichen Arten von Abstraktion zu bestaunen. Ulrike Obal nennt ihr Gemälde „Aufbruch“, und es könnte eine frühmorgendliche Hafenszene sein – oder ein anderer Start unter weitem Himmel. Interessant ist die Gegenüberstellung der beiden Digitalfotokünstler Uwe Greiß und Thomas Schmitt-Schech: Der eine (Greiß) abstrahiert seine Winterwälder bis auf filigrane grafische Formen, der andere verdichtet Landschaften auf seltsam friedlich anmutende und doch subtil bedrohliche Szenarien.

Das Durchscheinende und gleichzeitig Massive einer „Wasserlandschaft“ hat Michaela Berning-Tournier in ihr Aquarell gebannt. Wolfgang Blockus lenkt in seiner Serie „Landschaft in Auflösung“ den Blick eindringlich auf Details.

Brot und Juwelen von Ulrich Bittmann, Foto: Thomas Schmitt-SchechBrot und Juwelen von Ulrich Bittmann, Foto: Thomas Schmitt-Schech

Belebte Szenerien

Und die Menschen? Sie kommen nicht nur mittelbar (etwa als Bedrängte), sondern auch figurativ vor. Maria Gust etwa lässt in ihrem Bild „Einäugige“ plakativ und doch einfühlsam den Titel ihrer Serie „Der, die das Fremde“ spüren. Den rätselhaften Titel „Brot und Juwelen“ trägt ein Ölgemälde von Ulrich Bittmann, dessen Szenerie viel Spielraum für Interpretation lässt, während seine expressionistische Strahlkraft fesselt. In „Zurück nach Hause“ von Barbara Engel steht eine Frau zögernd vor einer Häusersiedlung, die je nach Perspektive anheimelnd bunt oder abweisend wehrhaft und verschlossen wirkt. Viel zu entdecken gibt es auf den farbenfrohen Collagen von Evelyn Müller, die bei aller Reizüberflutung Optimismus ausstrahlen.

Vivien Thiessen, diesjährige Preisträgerin der Jahresschau, stellt in See- und Freibadszenen gleiche Motive, unterschiedlich interpretiert, einander gegenüber: eine Einladung, genau hinzuschauen! Thiessen, gebürtige Lübeckerin, die in Hamburg studiert hat, sei äußerst vielseitig, betonte Vorjahrespreisträgerin Heinke Both in ihrer Laudatio: „Sie hat etwas Suchendes, Experimentierendes, nichts Festgelegtes.“ Sie male einen Boxer im Ring, aber auch tosende Seestücke, besuchte Orte und Szenerien, menschenleer oder auch belebt. Bei der Jahresschau ist von ihr auch das in Mischtechnik entstandene Bild „Gustavsberg / Badende“ zu sehen.

Heinke Both und Vivien Thiessen, Foto: Thomas Schmitt-SchechHeinke Both und Vivien Thiessen, Foto: Thomas Schmitt-Schech

Vielfalt und Treibhaus

Die Vielfalt darzustellen, sei erklärtes Ziel der Jahresschau-Jury gewesen, legte Juror Dr. Oliver Zybok, Direktor der Overbeck-Gesellschaft, in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung dar. Um sogleich seine Ansicht zum Prozess der Jurierung wiederzugeben: Man müsse einen Diskurs führen, müsse „Kontroversen und lebhafte Auseinandersetzungen“ über die Kunst führen. Da redete er sicher nicht nur von der Jahresschau-Vorbereitung, sondern auch vom Widerhall der Meese-Ausstellung, die er initiiert und kuratiert hatte. Er, der seit 2015 in Lübeck tätig sei, habe schnell gemerkt: „Die Lübecker Künstler sind aktiv und streitbar!“

Zybok, Repräsentant der institutionalisierten Kunst geht auf die „Off-Szene“, wie er sie nennt, zu, das machte er auch in seiner Ansprache deutlich. Man brauche „Orte, sich Gehör zu verschaffen, Orte des Austauschs“. Für die Gemeinschaft Lübecker Künstler hat er den Kontakt zu Gollan hergestellt, und er unterstützt aktiv das „Kulturtreibhaus“, das kürzlich ins Leben gerufen wurde und bereits viel Aufmerksamkeit erfahren hat.

Dia-Collagen von Rüdiger Fischer, Foto: Thomas Schmitt-SchechDia-Collagen von Rüdiger Fischer, Foto: Thomas Schmitt-Schech

Zurück zur Ausstellung, betonte Zybok die Vielfalt der Medien und Materialien. Stellvertretend genannt seien hier die projizierten Dia-Collagen von Rüdiger Fischer, analoge und digitale Fotografie, Radierungen, Farbholzschnitte, Monotypien und Mischtechniken wie etwa die changierenden Collagen aus Aquarell, Acryl, Papier, Folie und Glas von Heinke Both. Aus Bambus, Farbe, Eisen, Tape und Kabelbinder besteht die einzige Skulptur, „Turmbau“ von Sabine Engelhaaf.

Die Vernissage

Rainer Wiedemann, 1. Vorsitzender der Gemeinschaft, freute sich ebenfalls über das Kulturtreibhaus. „In Lübeck tut sich was, der Horizont erweitert sich!“, lobte er. Wiedemann dankte ausdrücklich der Possehl-Stiftung, die nicht nur seinen Verein unterstütze: „Was wäre Lübeck ohne Possehl?“

Rainer Wiedemann (1. Vorsitzender der Gemeinschaft Lübecker Künstler), Foto: Thomas Schmitt-Schech Rainer Wiedemann (1. Vorsitzender der Gemeinschaft Lübecker Künstler), Foto: Thomas Schmitt-Schech  

Schließlich schlug Wiedemann jedoch nachdenkliche Töne an. Er sprach von einem „gesättigten Kunstmarkt“, der es den einzelnen immer schwerer mache, ihre Werke zu verkaufen. Insgesamt sei deshalb die finanzielle Lage der freischaffenden Künstler*innen sehr angespannt.

Die Vernissage am Donnerstag verlief dennoch in positiver Stimmung. Musikalisch virtuos begleitet von Martina Tegtmeyer am Akkordeon und Jan Baruschke (Violine), diskutierten die zahlreichen Gäste lebhaft über die ausgestellten Werke.

Jahresschau der Gemeinschaft Lübecker Künstler
vom 20. bis 29. September 2019, täglich 11-18 Uhr
Schuppen 6
Eintritt frei

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

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