Sam Brody: Alice Neel with paintings, 1940 © Estate of Alice Neel

Die unbequeme amerikanische Malerin Alice Neel in den Hamburger Deichtorhallen
Die künstlerische Entdeckung des Jahres

In den USA gilt sie seit langer Zeit als eine der wichtigsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts, in Europa, also auch in Deutschland, ist die grandiose Schöpferin eindringlichster Porträts nahezu unbekannt. Dies dürfte mit der ersten Übersichtsschau des gesamten Schaffens von Alice Neel (1900–1984) in Hamburg endgültig vorbei sein.

Mit dieser Retrospektive von insgesamt 110 Werken aus 60 Jahren künstlerischer Arbeit sollte die Bedeutung und Größe Alice Neels für die Kunstgeschichte endlich abgesichert sein.

Jeremy Lewison (Kurator), Dirk Luckow (Intendant Deichtorhallen) und Andrew Neel (Enkel von Alice Neel), Foto: Holger KistenmacherJeremy Lewison (Kurator), Dirk Luckow (Intendant Deichtorhallen) und Andrew Neel (Enkel von Alice Neel), Foto: Holger Kistenmacher

Der ehemalige Sammlungsleiter der Londoner Tate Gallery und beste Neel-Kenner Jeremy Lewison hat diese außergewöhnliche Schau kuratiert und chronologisch gehängt. Ihm war es wichtig, Alice Neel speziell in Hamburg im Kontext zu Malerei-Größen wie Lovis Corinth, Edouard Manet, Edvard Munch oder Rembrandt, die zur Sammlung der Hamburger Kunsthalle gehören, zu platzieren, wie er auf der Pressekonferenz erzählte. „Ich glaube, dass Alice Neel ihren Platz in diesem Pantheon der Kunst bekommen wird, der ihr auch zusteht.“ 

Elenka, 1936, (c) Alice NeelElenka, 1936, (c) Alice NeelZu sehen gibt es überwiegend Porträts, aber auch Landschaftsaufnahmen, Stillleben und Straßenszenen. Dazu kommen ca. 30 Zeichnungen und zwei Filme. Den einen gibt es als Ausschnitt von 20 Minuten zu begutachten, ihn hat ihr Enkel Andrew Neel 2007 geschaffen (läuft auch in Originallänge im Hamburger Abaton-Kino). „Das Malen war für sie kein Beruf, sondern Leidenschaft – eine Obsession“, erzählt Andrew im Film, der selbst als 6-Jähriger von der Großmutter porträtiert wurde, obwohl er ein Zappel-Philipp war und mit Schokolade zum ruhigen Sitzen bestochen werden musste. Kinder und überhaupt alle möglichen Personen aus ihrem Umfeld hat sie gemalt, überwiegend nackt, so wie sie halt sind – für Andrew Neel ganz normal in einer Künstlerfamilie. Ihn hat höchstens schockiert zu erleben, wie andere reagiert haben, oder zu erfahren, wie Ausstellungen verboten wurden.

Henry Geldzahler, 1967, (c) Alice NeelHenry Geldzahler, 1967, (c) Alice NeelBesonders die frühen Bilder erinnern an den deutschen Expressionismus oder an die Neue Sachlichkeit eines Max Beckmann oder Otto Dix, wobei ihre Porträts aber viel mehr Menschlichkeit, Wärme, Empathie ausstrahlen. Immer hat sie versucht, hinter die Fassade der Menschen zu schauen, den psychologischen Hintergrund zu erforschen. Dabei gelangen ihr teilweise sehr bissige oder auch entlarvende Werke, die sie durch scheinbar flüchtig hingeworfene Hintergründe sogar noch steigerte. So wirkt der Kunst-Mäzen Henry Geldzahler (1967) voller Unbehagen, die rechte Hand umklammert die Rückenlehne, während die linke verkrampft gegen die Hüfte drückt. Der große Edelsteinring auf seinem kleinen Finger war ein offenes Bekenntnis zu seiner Homosexualität, was für Neel trotz der damaligen gesellschaftlichen Ächtung kein Problem war. Zeitlebens war sie unbequem, unangepasst, setzte sich für Arme und Unterdrückte ein, sympathisierte mit der Idee der Kommunisten in ihrem Land und war kämpferische Feministin.

Andy Warhol, 1970, (c) Alice NeelAndy Warhol, 1970, (c) Alice NeelDas mag mit ihrem sehr bewegten eigenen Leben zu tun haben. Sie musste schwere Schicksalsschläge überwinden und unternahm mehrere Suizidversuche. Auch mit ihren Männern hatte sie wenig Glück, obwohl sie fünf Kinder gebar. Zwei starben früh, ihre Tochter Isabetta wurde vom Vater nach Kuba geholt, die beiden Söhne zog sie alleine groß. Das Pech mit den Ehemännern hing wohl damit zusammen, dass sie eine Schwäche für Melancholiker und Misanthropen hatte. Männer wie den Nachtclubsänger José, den sie ebenfalls porträtierte. Aber nach jeder Lebenskrise kam sie gestärkt wieder ins Leben zurück und steigerte ihre kraftvolle künstlerische Vision mit einer schier unersättlichen Sehnsucht, den Menschen ihres Umfelds möglichst wahrhaftig und ungekünstelt nahe zu kommen. Die meisten ihrer Porträts strahlen Intimität und Nähe aus, sind frei von Posen und Selbstüberschätzung. Andy Warhol, den sie in den Zeiten der berühmten „Factory“ kennenlernte und malte, war von seinem Porträt begeistert und bezeichnete das Bild als das Beste, was es von ihm gäbe.

Nancy and the Twins (5 Months), 1971, (c) Alice NeelNancy and the Twins (5 Months), 1971, (c) Alice Neel

Besonders außergewöhnlich und hervorragend sind ihre Frauenbildnisse, die sie meist als Akte oder als Schwangere malte. Trotzdem waren diese Nackten weder erotisierend noch idealisierend, denn sie sahen eben so aus, wie sie waren: Sie altern, haben Speckringe am Bauch oder ungleiche Brüste, sind müde vom Stillen und einem entbehrungsreichen Leben. Es war ihr immer am wichtigsten, den Ausdruck der Menschen in ihren Gesichtern, den aussagekräftigen Händen, aber auch in der Kleidung, dem Make-Up oder den Accessoires herauszuarbeiten. Wahrhaftigkeit war stets ihr Credo. So direkt, so schockierend genau hinzusehen, das trauten sich meist nur Männer.

Jackie Curtis and Rita Red, 1970 Öl, (c) Alice NeelJackie Curtis and Rita Red, 1970 Öl, (c) Alice NeelDer Rundgang der wunderbaren Schau in den Deichtorhallen beginnt mit ihrer Frühphase auf Kuba, nachdem sie ihre Ausbildung als Sekretärin abgebrochen hatte und ihrem ersten Mann in die Karibik gefolgt war. Danach siedelte sie nach New York über, wo sie zuerst in Greenwich Village und Chelsea lebte, später dann in Spanish Harlem und an der Upper West Side. Dabei malte sie neben ihrer Familie viele Mitglieder der Kulturszene New Yorks, andere Maler und Künstler, aber auch überwiegend Schriftsteller. Berühmt ihr Porträt von Jackie Curtis und Ritta Redd – Super-Stars von Andy Warhol aus seinen Filmen, ein einzigartiges Beispiel für das wilde, freie Leben der Mitglieder aus Warhols Factory. Später wurde Curtis, der am Heroin zugrunde ging, von Lou Reed im Klassiker „Walk on the wilde side“ verewigt.

Immer war sie dem jeweiligen Zeitgeist auf der Spur, obwohl sie nie richtig dazugehörte. Die längste Zeit ihres Lebens war sie arm, die künstlerische Anerkennung erfolgte erst spät in den 70er Jahren. Kritiker bemängelten ihren realistischen Stil als Rückkehr zum vorigen Jahrhundert, obwohl ihre kraftvollen Werke zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der Gegenwartsmalerei inspirierten, wie Chuck Close, Marlene Dumas, Alex Katz oder Elisabeth Peyton.

Pregnat Julie and Algis, 1967, (c) Alice NeelPregnat Julie and Algis, 1967, (c) Alice Neel

Es ist ein großes Verdienst der Deichtorhallen und des Kurators Jeremy Lewison, dass diese außergewöhnliche und großartige Künstlerin nun auch endlich in Deutschland aus der Vergessenheit geholt wird. Ihre radikale und freie Sicht auf den Menschen ist die Entdeckung einer Ausnahmekünstlerin, der mehr Anerkennung ihrer Position in der Kunstgeschichte gebührt.

Die Ausstellung: „Alice Neel – Painter of Modern Life“ läuft in den Hamburger Deichtorhallen bis zum 04.01.2018. Der üppig bebilderte Katalog zur Ausstellung mit ausführlichen Texten zu Hintergründen und Umständen sowie hervorragenden Erläuterungen zu den einzelnen Bildern hat 240 Seiten und kostet 39,80 Euro. www.deichtorhallen.de

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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