Humanoider Roboter spricht über manisch-depressive Erkrankung: Uncanny Valley - Inszenierung von Stefan Kaegi und Thomas Melle, Foto: (c) Gabriela Neeb

Internationales Sommerfestival 2019 auf Kampnagel
Abheben in die Zukunft mit Gegenwartskunst

Außerirdisches, Avantgardekunst, Futurismus-Visionen, Genderpolitics, Klimawandel-Diskurse, humanoides Roboter-Theater und Street-Art-Performances sind neben einem bunten Mix an Konzerten hauptsächliche Bestandteile des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel (7. bis zum 25. August).

Laut Festivalchef András Siebold soll die „Kunst einerseits die Welt beschreiben, andererseits aber auch einen Blick in die Zukunft werfen“. So beschreibt er sein Konzept für das Festival 2019. Wie schon in den letzten Jahren geht Kampnagel dabei eine Kooperation mit verschiedensten Institutionen und Locations Hamburgs ein. Diesmal sind neben den Bühnen und dem Außengelände mit Avant-Garten und Metropolistan der Kulturfabrik in Barmbek außerdem der Kunstverein, das Planetarium, das Gängeviertel und die Elbphilharmonie am künstlerischen Spektakel beteiligt. Mit Gegenwartskunst soll die Zukunft der Welt gespiegelt werden.

Allein neun Uraufführungen stehen auf dem Programm, dazu ein Schwerpunkt mit diversen Künstlern aus Kanada, sowie verschiedenste Formen des Diskurses zum Klimawandel und dem daraus folgenden dystopischen Zukunftsszenario unserer Erde. Stargast des Festivals ist die feministische Pop-Ikone Peaches, die seit 20 Jahren die Bühnen der Welt mit ihren Happenings aus Performance, Rock Show und Bildender Kunst begeistert.

Peaches: There´s only one Peach with the hole in the middle, Foto: (c) Magda WosinskaPeaches: There´s only one Peach with the hole in the middle, Foto: (c) Magda Wosinska

Mit „There´s only one Peach with the hole in the middle“ bringt die radikal-feministische Ausnahme-Künstlerin eine Varieté-Extravaganza mit fast 40 Musiker/innen und Performer/innen auf die große Bühne von K6 zur Erstaufführung. Beteiligt an dieser kompromisslosen Show aus rotzigem Queer-Feminismus und futuristischem Bühnenhappening sind unter anderem Gäste wie die „Hyenaz“, die Aerial Performerin „Empress Stah“ und die New Yorkerin „Christeene“. Inspiration hat sich Peaches von frühen Varieté-Shows der 70er LGBTIQ-Ikonen wie Bette Midler und Liza Minelli geholt. Das wird mit Sicherheit schrill und krass, aber noch längst nicht alles, was Peaches zu bieten hat.

(c) Peaches : Whose Jizz Is This?, Foto: (c) (c) Peaches : Whose Jizz Is This?, Foto: (c) Im Kunstverein wird ihre erste Einzelausstellung unter dem Titel „Whose Jizz Is This?“ am 9. August eröffnet. Es soll ein interaktives Setting aus Live-Performance, Rock Show, Bildender Kunst und historischem Rückblick auf ihre 20jährige Arbeit als Queer-Feministin gezeigt werden. Eine raumgreifende Ausstellung aus skulpturalen, fotografischen, filmischen und textlichen Bildwerken, die ihre musikalische und performative Kunstproduktion der letzten Jahre präsentiert. Hinzu lädt Peaches musikalische Weg-Begleiter/innen zu vier Club-Abenden in die KMH, wie zum Beispiel die Kampnagel-Lieblings-Diva Little Annie & Paul Wallfisch. „Die musikalische Reinkarnation eines Jahrgangs-Whiskeys kommt mit Superband und neuen Songs über schiefe Typen“.

Eröffnet wird das Festival vom französischen Medienkunst-Kollektiv „La Horde“, die gleich zwei parallele Arbeiten ab dem 7. August präsentieren werden. Schon im vergangenen Jahr explodierte die Energie der Tanz-Futuristen mit ihrer speziellen Jumpstyle-Überwältigung eines Massen-Tanzes unter dem begeisterten Publikum. Mittlerweile wurde das Trio mit der Leitung des Ballet National de Marseille betraut und zeigt zur Eröffnung ihre performative Groß-Installation „The Beast“.

(La)Horde: Mary me in Bassiani, Foto: (c) Aude Arago(La)Horde: Mary me in Bassiani, Foto: (c) Aude Arago

Gleichzeitig präsentiert das Kollektiv in Zusammenarbeit mit ehemaligen Tänzer/innen des georgischen Nationalballetts das Stück „Marry Me In Bassiani“. Ein Stück politischen Aufbegehrens der Massen, als der Protest gegen eine Razzia im titelgebenden Club Bassiani in eine Tanz-Demonstration von zehntausenden jungen Menschen zu lauter Techno-Musik 2018 zu Aufruhr in Georgien führte. 1.500 Jahre alter georgischer Volkstanz trifft auf wütende Prostest-Tänzer, die für ihren friedlichen Widerstand, ihre Solidarität und ihre energetische Kraft als gemeinsam tanzende Menschen ein wichtiges Zeichen setzen.

Aus Montreal kommen „Socalled & Friends“, die erneut die Puppen tanzen lassen wollen. Ein Puppen-Musical des kanadischen Komponisten, Rappers, Zauberers, Cartoon-Zeichners, Filmemacher und Puppenbauers Socalled. Es soll als dritter Teil seiner Space-Musical-Grandezza erneut für Glücksgefühle beim Publikum sorgen, wie auch außerirdische Fuzziwesen und befreundete Waldtiere zum Tanzen animieren. Ein 20köpfiges Team rund um die indisch-kanadische Juno-Award-Gewinnerin Kiran Ahluwalia, dem Hollywood-Schauspieler Joe Cobden, Montrealer Profi-Puppen-Spieler/innen und dem New Yorker Underground Rapper C-Rayz Walz, bis hin zum Hamburger Kaiser-Quartett werden unter Anleitung von Socalled ein unterhaltsames Musical aus Bollywood, Funk, Folk, HipHop und Broadway-Klassikern als Melange präsentieren, die nicht nur die teilnehmenden Puppen zum Tanzen bringen werden.

Socalled & Friends, Foto: (c) Josh DolginSocalled & Friends, Foto: (c) Josh Dolgin

Weitere Tanz-Höhepunkte mit zukunftsorientiertem, zeitgenössischem Tanz stammen von der kanadischen Choreografin und Ballett-Erneuerin Aszure Barton, die sich mit dem Düsseldorfer Pianisten und Oscar-nominierten Komponisten Hauschka zusammen getan hat, um „Where there´s Form“ zu präsentieren. Als Tanz-Neu-Entdeckung kommen „Vasya Run“ aus Moskau nach Hamburg, eine Gruppe aus anonymen jungen Männern aus den Randbezirken der russischen Hauptstadt. Ihre choreografische Performance verbindet zeitgenössische Kunst, Theater, Graffiti, HipHop und spirituelle Praktiken von Samurais mit dem Sufismus. Eine konspirative Subkultur trifft auf Gang-Culture und Street-Art.

Tanz und das Thema der Gegenwart, der globale Klimawandel, bringt der belgische Theatermacher Kris Verdonck in einem post-apokalyptischen Bühnenbild auf die Bretter der K2. Es geht um den Abgrund, vor dem unsere Welt steht, wenn die Menschheit nicht sofort handelt. Eine Performance mit dem ehemaligen ROSAS-Tänzer Mark Lorimer, der Performerin Ula Sickle und der Noise-Cellistin Leila Bordreuil.

Humanoider Roboter (Thomas Melle) spricht über manisch-depressive Erkrankung: Uncanny Valley, Foto: (c) Gabriela NeebHumanoider Roboter (Thomas Melle) spricht über manisch-depressive Erkrankung: Uncanny Valley, Foto: (c) Gabriela Neeb

Zukunftsweisendes Theater wird es ebenfalls dieses Jahr in verschiedenster Form geben. Das Kollektiv „Rimini Protokoll“ und der bipolare Schriftsteller Thomas Melle werfen einen unheimlichen Blick in die Zukunft und in das Tal zwischen Mensch und Maschine. Der brillante biografische Roman „Die Welt im Rücken“, den ich hier ebenfalls vorgestellt habe, dient als Vorbild für einen humanoiden Roboter mit Melles Aussehen und Stimme. Der Automat spricht über Melles Erkrankung und seine Beziehungen zu Menschen und Maschinen, strange!

Eine groteske Horrorstory bietet die norwegische Theater-Truppe „Susie Wang“ aus Oslo. Hervorgegangen aus der legendären Baktruppen präsentieren sie eine Mischung aus Illusionstheater und grotesken Horrorfilm, die nichts für Zartbesaitete ist. Es wird blutig und strotzt vor humorvoll-düsterer Fantasie. In „Mumienbraun“ geht es um das Verhältnis von Mensch und Natur.

Fulldome Concert: Richard Reed Parry presents Quit River of Dust, Foto: (c) JF LalondeFulldome Concert: Richard Reed Parry presents Quit River of Dust, Foto: (c) JF Lalonde

Weitere Höhepunkte des Festivals dürften die verschiedenen Themenabende in der Hamburger Sternwarte im Stadtpark werden, wo das Festival-Publikum einen Blick in die Zukunft werfen kann. Die Konzertreihe „The New Infinity“ präsentiert in Kooperation mit den Berliner Festspielen und dem Planetarium drei Weltpremieren, in denen bildende Künstler/innen und Musiker/innen (Agnieszka Polska, Metahaven, Robert Lippock, Lucas Gutierrez) immersive Fulldome-Arbeiten als Raumerlebnis für das 21. Jahrhundert schaffen. An drei Abenden spielt dazu Richard Reed Parry von Arcade Fire sein Live-Konzert „Quiet River of Dust“.

Noch überhaupt nicht erwähnt habe ich die verschiedenen Veranstaltungen zum Kernthema „Klimawandel“. Es wird Diskussionen, eine Film-Reihe, sowie eine Konferenz u.a. mit Klimawissenschaftler Mojib Latif geben.

Taktloss, Foto: (c) TaktlossTaktloss, Foto: (c) TaktlossUnd natürlich ist auch wieder einem weit gefächerten Musik-Programm zu lauschen. Alte Kampnagel-Freunde wie Chilly Gonzales, Coco Rosie, Kid Koala oder Carsten „Erobique“ Meyer mit seiner musikalischen Aufarbeitung des DDR-Schlagers der 60er und 70er Jahre im Konzertabend „Wir treiben die Liebe auf die Weide“ werden wieder für ausgelassene Stimmung unter den Musik-Freunden des Festivals sorgen. Außerdem am Start u.a. Shabazz Palaces aus Seattle mit verkifften afrofuturistischem Space-Trip, ein meditativer Abend mit dem Aarhus Symfoniorkester & Bell Orchestre aus Montreal, Psychedelic Rock aus Japan von Kikagaku Moyo oder das Underground Rap-Mysterium Taktloss aus Berlin.

Dieses und noch viel mehr verspricht das 2019er Sommer Festival. Das gesamte Programm ist unter www.kampnagel.de einsehbar. Tickets gibt es auch unter 04027094949.

Viel Spaß im August auf Kampnagel wünscht Holger Kistenmacher

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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