Carillon im Mahnmal St. Nikolai, Foto: (c) Werner Lamm

Gespräch mit Werner Lamm, ehrenamtlicher Carillonneur am Mahnmal St. Nikolai in Hamburg
Ein Carillon für den König

Windung um Windung steigt Werner Lamm die Treppe hinauf. Alte Mauern umgeben uns, die ältesten im Umkreis, was nicht verwunderlich ist, nutzten alliierte Bomberpiloten den 147 Meter hohen Turm der Kirche St. Nikolai doch als Zielmarke für die Bombardements Hamburgs im Sommer 1943.

Der Turm und die Rückwand des Chores, viel mehr verbleibt nicht von der ehemaligen Kirche im Herzen der Stadt, mit ihrem zur Zeit seiner Einweihung höchsten Kirchturm der Welt, der wundersamerweise auch nach dem Krieg noch nahezu unbeschadet in den Himmel ragte. Dafür wartet ebendieser Turm mit einer weiteren Besonderheit auf: Er beherbergt ein Carillon. Die Deutsche Glockenspielvereinigung vermerkt dazu auf ihrer Website: „Ein Carillon (im deutschen Sprachgebrauch manchmal auch als Turmglockenspiel oder Konzertglockenspiel bezeichnet) hat gegenüber einem Kirchengeläut mindestens 23 Bronzeglocken (zwei Oktaven in chromatischer Reihenfolge), die mit einer Handspieleinrichtung verbunden sind. Diese Handspieleinrichtung, auch Stockspieltisch genannt, ist mit dem Spieltisch einer Orgel vergleichbar, jedoch in anderen Dimensionen.“

Dieses Carillon hier habe 51 Glocken, bemerkt Lamm trocken. Er wirkt wie jemand, der die Freude und Verantwortung auszubalancieren weiß, die das Ehrenamt des Carillonneurs von St. Nikolai mit sich bringt. Die gelben Sicherheitshelme, die man beim Betreten des Turmes aufsetzen soll, kommentiert er mit den Worten: „Wenn einem die Glocken auf den Kopf fallen, bringen die aber auch nichts.“ Und am Spieltisch gelte im Allgemeinen: „Wenn‘s die Taste nicht ist, dann ist es meistens die daneben.“ Natürlich nur, wenn unten nicht gerade der britische König auf dem Pflaster steht.

Das Gespräch führen wir am Spieltisch des Carillons in ca. 17 Metern Höhe, das 13 Tonnen schwere Gebilde aus Glocken, Querverstrebungen und Seilen über unseren Köpfen. Von hier aus überschaut man den Grundriss der ehemaligen Kirche, erbaut nach einem Entwurf des britischen Architekten George Gilbert Scott, in dessen Zentrum noch wenige Stunden zuvor König Charles III. neben Bundespräsident, Bürgermeister und Bischöfin der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht hat.

Werner Lamm am Spieltisch des Carillons, Foto: (c) Leonhard CalmWerner Lamm am Spieltisch des Carillons, Foto: (c) Leonhard Calm

Leonhard Calm: Was ist das für ein Posten, den du hier bekleidest, und wie bist du dazu gekommen?

Werner Lamm: Das ist ein städtisches Ehrenamt. Ich bin Kirchenmusiker hier in Hamburg, seit 34 Jahren, also auch Organist. Es gibt zwei Sorten von Organisten: Solche, die nach Noten spielen und solche, die gerne viel improvisieren, experimentieren. Zu letzteren gehöre ich. Irgendwann bekam ich einen Anruf von meinem Vorgänger, ob ich das Teil hier mal ausprobieren wollte und als er mich wenig später gefragt hat, ob ich ihn beerben wollen würde, habe ich gesagt: Na klar will ich das, das Ding ist das beste Spielzeug in der ganzen Stadt. Und in Deutschland gibt‘s ja nicht so viele Glockenspiele, das ist ja eher ne Sache, die du in Belgien, Holland, Brabant und im Norden von Frankreich findest.

Calm: Wieso ist das so?

Lamm: Ich glaube, das ist ein kultureller Zufall. Größere Kirchen haben ja meistens schon fünf, solche vom Schlage des Lübecker Doms oder der Marienkirche haben oftmals bis zu acht Glocken - und da war es natürlich ein relativ offensichtlicher Entwicklungsschritt, diese Glocken mit irgendwelchen Strippen zu verbinden.

Calm: Was umfasst dieses Ehrenamt?

Lamm: Zweierlei. Einmal regelmäßig die Glöckchen hier zu spielen und jede Woche Donnerstags um 12:00 Uhr zur Marktzeit gemeinsam mit anderen ein kleines Konzert zu geben. Und dann noch zu Feiertagen und besonderen Anlässen. Wenn, so wie heute morgen, der englische König vorbeikommt, dann muss ich halt ran und spielen. Oder beispielsweise am achten Mai, im Gedenken an den Waffenstillstand, der den zweiten Weltkrieg beendet hat.

Calm: Heute morgen war König Charles III. zur Kranzniederlegung hier. Man schreibt ihm ja im Allgemeinen eine gewisse Ausstrahlung zu, allein schon aufgrund seines Amtes. Wie wirkt er von so weit oben?

Kranzniederlegung: 1. Reihe: Frank-Walter Steinmeier, König Charles lll., Peter Tschentscher, 2. Reihe: Kirsten Fehrs, Bischöfin von Hamburg (mit Schirmträgerin), daneben die jeweiligen Gattinnen, hinten der königliche Leibwächter, Foto: (c) Werner LammKranzniederlegung: 1. Reihe: Frank-Walter Steinmeier, König Charles lll., Peter Tschentscher, 2. Reihe: Kirsten Fehrs, Bischöfin von Hamburg (mit Schirmträgerin), daneben die jeweiligen Gattinnen, hinten der königliche Leibwächter, Foto: (c) Werner Lamm

Lamm: Du konntest ihn von hier oben gut an seinem Schuhputz erkennen, der bei weitem glänzender war als bei allen anderen. Abgesehen davon wirkten sie alle, der König, der Bürgermeister, die Bischöfin, der Bundespräsident, relativ normal. Streng genommen hätte ich ihn wohl nicht von den anderen unterscheiden können, hätte ich sein Gesicht nicht gekannt - das war mit der Queen natürlich anders. Aber schließlich war das hier ja auch kein Staatsakt, um ihn zu zelebrieren, sondern einer zum Zwecke der Völkerverständigung. Schließlich ist diese Kirche hier damals von britischen Bombern zerlegt und so zur Ruine geworden und das war wiederum sicherlich auch eine Reaktion auf die deutschen Bombardements von Coventry.

Calm:Also gab es kaum royales Gehabe?

Lamm: Null! Gar keins. Charles wirkte schlicht, bescheiden. Und wer so ein Gehabe braucht, der würde auch keinen guten König abgeben, glaube ich.

Calm: Hast du den Eindruck gehabt, dass die Ernsthaftigkeit des Anlasses durch die überbordende Präsenz der Königlichen Familie in der Klatschpresse beeinträchtigt wurde? Dass es mehr um den König ging, als um den Anlass an sich?

Lamm: Nein, im Gegenteil. Ich verfolge die Klatschpresse nicht, aber ich schaue regelmäßig ins Hamburger Abendblatt. Übrigens ist es ein wenig absurd, dass Hamburg als deutsche Pressehauptstadt nicht dazu in der Lage ist, eine seriöse Tageszeitung herauszubringen, aber das ist ein anderes Thema. Ich fand den ganzen Besuch, gerade hier am Mahnmal, angenehm unprätentiös. Wobei eine gewisse Prätentiosität natürlich der massiven Security geschuldet war.

Calm: Wie muss man sich die Vorbereitung auf ein solches Event vorstellen? Auch mit Blick auf die Sicherheit? Du trägst heute so ein schönes Festivalbändchen vom Bundeskriminalamt.

Werner Lamm mit BKA-Band, Foto: (c) Leonhard CalmWerner Lamm mit BKA-Band, Foto: (c) Leonhard CalmLamm: Die Informationen sickerten so schrittweise durch. Irgendwann zum Jahreswechsel bekam ich gesagt: Nimm dir mal den Tag frei. Als ich begonnen habe nachzufragen, hieß es nur: Nein, nein, keine Fragen, einfach freinehmen. Aber ich habe mir schon gedacht, dass da wohl jemand nicht ganz Unwichtiges zu Besuch kommen wird. Der Tag wurde also freigenommen. Als nächstes wurden alle Mitwirkenden vom Bundeskriminalamt durchleuchtet. Die sind heute morgen auch nochmal in Zivil hier in den Turm heraufgekommen. Auf allen Hochhausdächern ringsum war ebenfalls Polizei. Und jede Person, die sich innerhalb der Polizeiabsperrung aufhalten sollte, wurde eben vermittels eines solchen schönen neonfarbenen Armbandes akkreditiert.

Calm: Haben die Sicherheitsvorkehrungen deine Vorbereitung erschwert?

Lamm: Vor allem in der Hinsicht, dass mir sämtliche Informationen mündlich übermittelt wurden. Etwas Schriftliches habe ich nie zu sehen bekommen. Dafür bin ich wahrscheinlich bei Weitem nicht wichtig genug. Auch die Choreografie haben wir alle auswendig gelernt, es wurde generell fast nichts verschriftlicht. Ich wusste, wenn die Delegation da unten sich nach der Kranzniederlegung und Begrüßung einiger Persönlichkeiten in Richtung Ausgang bewegt, dann lege ich los. Und dann ist der König tatsächlich stehengeblieben und hat zugehört. Wir haben uns in die Augen geguckt und ich habe gespielt und ich glaube, er war sehr interessiert und erfreut darüber.

König Charles III. blickt nach oben, Foto: (c) Werner LammKönig Charles III. blickt nach oben, Foto: (c) Werner Lamm

Calm: Was hast du gespielt?

Lamm: Ich habe Passagen aus Kantaten und Instrumentalsuiten von Bach und Telemann gespielt und das zu einem schönen Arrangement zusammengebastelt.

Calm: Wie kam die Auswahl der Werke zustande?

Lamm: Die ist durch eine Kommission erfolgt, der ich Vorschläge gemacht habe. Und das Problem ist, wenn jetzt der stellvertretende Bürgermeister von Bielefeld kommt, dann ist das, bei allem Respekt natürlich, nicht so kompliziert - aber wenn jetzt der Englische König da unten steht, dann muss man schon echt aufpassen, was man macht. Also nichts, was irgendwie Rückfragen in der Presselandschaft oder auch nur diplomatisches Schmunzeln erzeugt, was irgendwie Gefahr laufen könnte, als unterschwellig respektlos daherzukommen. Heißt: Nichts Europäisches mit Blick auf den Brexit, nichts Irisches, Spanisches oder Französisches, nichts von Georg Friedrich Händel, bei dem die nationale Zugehörigkeit ja nicht abschließend geklärt ist. Es durfte nicht zu trauerkloßig sein, nicht unangemessen frivol. Gleichzeitig darf es natürlich nicht zu simpel sein, muss würdig klingen. Und dann habe ich mir gedacht: Mit Bach als einem der deutschen musikalischen Hauptexport-Artikel kann man nichts falsch machen.

Da der König ja auch das offizielle Oberhaupt der anglikanischen Kirche darstellt, hatte ich unter Anderem vorgeschlagen, einen Choral zu spielen. Da hatte die Kommission allerdings aufgrund des Säkularitätsgedankens Bedenken, da das Mahnmal ja schließlich auch ein Ort staatlicher Erinnerungskultur ist. Die Bischöfin war übrigens interessanterweise auch nicht im Ornat, sondern in Zivil hier.

Calm: Nun ist das Carillon ja aber ein Instrument, das deutlich mehr Menschen zu hören bekommen als nur der Nachbar nebenan. Hast du viel geübt?

Carillon im Mahnmal St. Nikolai, Foto: (c) Werner LammCarillon im Mahnmal St. Nikolai, Foto: (c) Werner Lamm

Lamm: Ja. Man kann hier natürlich nicht öffentlich üben, nicht dauerhaft. Ich übe solche Sachen ganz viel im Kopf. Komplexere Dinge, die unter gar keinen Umständen schiefgehen dürfen, dann setze ich mich ans Klavier, trete das Pedal und übe mit zwei Fingern - damit imitiere ich den Fakt, dass das Carillon eben hauptsächlich mit zwei Fäusten gespielt wird. Das habe ich auch in diesem Fall getan, habe mir alles am Klavier säuberlich zurechtgelegt und auch aufgenommen.

Calm: Sind es Momente wie diese, die dich dazu motivieren, das Ehrenamt auszuüben oder sind sie eher ein Bonus?

Lamm: Das ist eine trickreiche Frage. Es motiviert auf jeden Fall, vor allem auch die Dankbarkeit der anderen Leute, die hier am Mahnmal arbeiten. Ich mache das aber auch aus einer politisch-republikanischen Attitüde heraus, denn letztlich haben wir Deutschen im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen und diese unbeantwortete Frage, wie eine Kulturnation, die einen Goethe und einen Johann-Sebastian Bach hervorgebracht hat, gleichzeitig auf einen Hitler und einen Goebbels hereinfallen kann, die kann ich zwar nicht beantworten, aber ich kann zumindest dafür Sorgen, dass die kulturellen und die etwas würdevolleren Gesichtspunkte deutscher Kulturgeschichte auch mal öffentlich hörbar werden und gleichzeitig mit dem Gedenken an die hässlichen Seiten verbunden werden.

Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 31. März 2023.




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