Hedwige, Gattin von Tell (Tatia Jibladze) und Damen des Opernchores, Foto: Olaf Struck

Gioachino Rossini in Kiel
„Tell“ und die Freiheit der Kunst

Zunächst „Fame – Das Musical“ und nun doch die Grand Opéra: Kiel wählte dafür Gioachino Rossinis „Wilhelm Tell“. Seit 1928, seit fast 90 Jahren stand der Schweizer Nationalheld dort als Heldenbariton nicht mehr auf der Bühne.

Rossinis Opernfassung gilt als sein reifstes Werk und ist gleichzeitig sein letztes. Damit wird eine „Tell“-Inszenierung ein würdiger Auftakt, bietet ein großes Drama mit italienischem Belcanto und ist zugleich ein schroffer Gegensatz zu der leichtfüßigen, dennoch großartig inszenierten „Reise nach Reims“ in der vorherigen Spielzeit. Er eröffnet gleichzeitig eine gewichtige Saison. Strauss‘ „Arabella“ folgt, dann Verdis „Maskenball“ und Wagners Abgesang zum „Ring“, die „Götterdämmerung“. Zwei Abende mit Raritäten beenden die Saison: zunächst Einakter von Rachmaninow („Aleko“) und Tschaikowski („Francesca da Rimini“) und als barockes Finale Giovanni Legrenzis „Aufteilung der Welt“. Eine Kinderoper im Werftpark und zwei Ballettpremieren im Opernhaus ergänzen das Programm.

Guillaume Tell (Stefano Meo), Hedwige (Tatia Jibladze), Melcthal (Timo Riihonen), Foto: Olaf StruckGuillaume Tell (Stefano Meo), Hedwige (Tatia Jibladze), Melcthal (Timo Riihonen), Foto: Olaf Struck

Sorgfältig und mit großem Aufwand hatte das Haus sich des „Tell“ angenommen (Premiere: 15. Oktober) und präsentierte vor allem musikalisch, aber auch optisch einen opulenten Abend, der von der Ouvertüre an begeisterte. Schon zu Beginn wurde das Regiekonzept Fabio Ceresas sichtbar. Ihn interessierte wenig der Freiheitskampf eines unterdrückten Landes, der in die Schweizer Berglandschaft versetzt war und der in dem aufrührerischen Wilhelm Tell personifiziert war. Ceresa generalisierte weiter, fand das Künstlerische als das gefährdet, was die Identität einer Gemeinschaft stiftet, wollte zeigen, dass gerade die Freiheit der Kunst wichtigstes Gut einer Gemeinschaft ist und nicht durch irgendwelche Tyrannei oder Herrschaft gefährdet sein darf.

Nachvollziehbar ist solch kulturpolitischer Zugang, zumal die Tell-Sage sowieso erfunden ist, aus mehreren Quellen sich speist und auch in ihr das Aufbegehren der Urschwyzer gegen die Habsburger nur als Hintergrundfassade dient. Umgesetzt führt das dennoch zu Brüchen mit dem nicht nur durch Schiller allzu bekannten Stoff, der nun einmal auf den Beginn des 14. Jahrhunderts zurückweist. Der Regisseur umgeht das, indem er von seinem Landsmann Sergio Mariotti eine zeitlose Bühne bauen ließ. Sie verortet die Landschaft mit einem See und einem Wald zwar in den Bergen, aber ohne ein Hier und Heute, und zeigt außerdem als Innenraum eine Bibliothek mit zwei sehr hohen Podestleitern, die statt mit alten Folianten mit Druckbänden ausgestattet ist.

Gesler (Jörg Sabrowski), Mathilde (Agnieszka Hauzer), Foto: Olaf StruckGesler (Jörg Sabrowski), Mathilde (Agnieszka Hauzer), Foto: Olaf Struck

Auch mit den Kostümen treibt Guiseppe Pallella, dritter Italiener im Regiebunde, ein ähnliches Spiel. So verweist die Bekleidung der einfachen Bergler ins Irgendwann, die der Gesellschaft ebenso. Sie bekommt allerdings durch sehr viel bronzen patinierte Üppigkeit einen Rückwärtsanstrich, wie auch die Soldatenuniformen auf das 19. Jahrhundert verweisen. Die Zeit bleibt also diffus. Das alles wurde aufwändig, detailreich angelegt, wie sehr, zeigt sich beispielsweise in der Rütli-Szene. Jede der Gruppen von Eidgenossen aus Uri, Schwyz und Unterwalden erscheint in eigener Tracht – ein Spaß für das Auge.

Das Spiel mit dem Zeitbezug beginnt also bereits in der Ouvertüre. In kleinen, kurzzeitig erhellten Szenen zu dem vierteiligen Anfangsstück werden die Elemente einer künstlerischen Welt gezeigt. Den Schwerpunkt bildet die Musik. Sie wird durch die Tyrannei bedroht. Das Cello bekam seine besondere Bedeutung, wurde auf der Bühne pantomimisch, zu Beginn schwelgerisch schön im Orchestergraben von fünf Solocellisten gestrichen. Auf diesen Inszenierungsansatz musste der Besucher sich einlassen. Alles wurde ihm unterworfen, konsequent und bis zum Schluss. Das Spiel mit Homonymen half, das Sagenhafte mit dem Musikalischen zu verbinden. Dass Tell bei Rossini keine Armbrust auf seinen Sohn ansetzen muss, sondern, weit gefährlicher, mit Pfeil und Bogen hantiert, erleichtert den Bezug. Bögen gibt es auch im Orchester. Mit deren Saiten lässt sich auch als Mordwaffe furchterregend, zugleich heimlich hantieren. Und wenn solche Sehne schmerzvoll reißt, hat man eine weitere schöne Konnotation.

Jemmy, Sohn Tells (Katerina von Bennigsen), Guillaume Tell (Stefano Meo), Foto: Olaf StruckJemmy, Sohn Tells (Katerina von Bennigsen), Guillaume Tell (Stefano Meo), Foto: Olaf Struck

Tell wurde zum Dirigenten der Volksseele, leitete es wie ein Riesenorchester mit einem Pfeil als Dirigierstab. Es bewährte sich auch, wenn Arnold, Melcthals Sohn, zu einem Komponisten wurde, mit Notenbögen hantierte, inspiriert von Habsburgs Prinzessin Mathilde, seiner Muse, eigentlich Feindin – aber durch die Leidenschaft zur Musik verbunden. Dennoch wirkte nicht alles erhaben. Es wurde unfreiwillig komisch, wenn die Volksmenge Instrumente imitierte, die Streicher und die Blechbläser, koordiniert mit der Musik aus dem Graben. Auch erinnerte das Treffen auf dem Rütli, wenn die Verschwörer mit Geigenkästen unter dem Arm aus dem Dunklen schlüpfen, drastisch an die Lady-Killer.

Daniel Carlberg hatte das Philharmonische Orchester sorgsam vorbereitet, mit ihm Agogik und Dynamik, Klangfarbe und sinnvolle Tempi erarbeitet. Damit strömte schon einmal aus dem Orchestergraben der Schmelz des italienischen Belcantos. Die Stimmen erfüllten zudem alle Erwartung. Stefano Meo als Tell beherrschte mit seinem kräftigen Bariton Szene und Haus. Katerina von Bennigsen als sein Sohn Jemmy gestaltete die große Partie mit überschäumendem Spiel und einem alle überstrahlenden Sopran. Hedwige, Tommys Mutter und Ehefrau von Tell, sang Tatia Jibladze berührend. Die enorm schweren Rollen des Liebespaares meisterten Agnieszka Hauzer (Mathilde) und Anton Rositskiy (Arnold) mit bewundernswerter Bravour.

Hedwige (Tatia Jibladze), Walter Furst (Matteo Maria Ferretti), Jemmy (Katerina von Bennigsen), Foto: Olaf StruckHedwige (Tatia Jibladze), Walter Furst (Matteo Maria Ferretti), Jemmy (Katerina von Bennigsen), Foto: Olaf Struck

In den mittleren Partien überzeugten mit furchterregend kräftigem Bass Jörg Sabrowski (Gesler) und Martin Rainer Leipoldt (Rodolphe) mit gut sitzendem Tenor. Mateo Maria Ferretti sang Walter Furst und Leuthold, Timo Rihonen den alten Melcthal. Alles in allem war es ein wahres Belcanto-Fest mit charaktervoll gefärbten Stimmen. Was dieser Aufführung aber einen besonderen Charakter gab, war der riesige, vielfältig gestaffelte Chor, von Lam Tran Dinh äußerst nuanciert in Klang und Dynamik in allen Partien einstudiert und zudem von der Regie (Mattia Agatiello) spannend geführt.

Der lange Beifall galt uneingeschränkt dem Musikalischen, ein paar wenige Buhs wohl dem Grundkonzept der Regie, dem nicht alle folgen wollten.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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