Jan Byl (Doktor Tomas Stockmann, Kurarzt), Foto: Kerstin Schomburg

Ibsens „Volksfeind“ als lustvolle Schlammschlacht, doch ohne Brisanz

Die neue Inszenierung von Henrik Ibsens „Der Volksfeind“ passt wie geplant zu der Schicksalsfrage, wie geht die Bundestagswahl aus. Zwei Tage vor der Antwort darauf, ob die AfD nun wirklich als drittstärkste Kraft in den Bundestag einzieht, konnten bei der Premiere (22. September 2017) ein paar Gags zur Tagespolitik für Lacher im Publikum sorgen.

Denn das, was Ibsen anprangert, ist immer noch aktuell. 1893 war die Uraufführung des „Volksfeindes“ in Oslo. Und auch 127 Jahre nach der deutschen Erstaufführung in Berlin werden die Menschen weiterhin durch Propaganda verdummt, wird von der „Wahrheit der Mehrheit“ gefaselt oder von der „öffentlichen Meinung“, die alles legitimieren will. Heut wie damals lassen sich Zeitungen vor den Karren spannen, weil die Abonnenten oder die Inserenten „bedacht“ werden müssen.

Das Stück spielt in einem Städtchen, dessen Stolz und sprudelnde Einnahmequelle ein Heilbad ist. Nicht nur der Kurarzt Tomas Stockmann (sehr bemüht Jan Bryl) verdankt eben jener Institution sein gutes Leben, entdeckt allerdings eines Tages, dass das Wasser verseucht ist, lässt sich das auch wissenschaftlich bestätigen. Der Grund ist der Zulauf von ungeklärtem Wasser, das aus einer Gerberei des Pflegevaters seiner Frau stammt. Sven Simon spielt ihn in verschrobener Kostümierung und Attitüde.

Rachel Behringer (Katrine Stockmann), Astrid Färber (Lis Aslaksen), Sina Kießling (Helene Hovstad), Matthias Hermann (Peter Stockmann), Foto: Kerstin SchomburgRachel Behringer (Katrine Stockmann), Astrid Färber (Lis Aslaksen), Sina Kießling (Helene Hovstad), Matthias Hermann (Peter Stockmann), Foto: Kerstin Schomburg

Gegen den Willen seines Bruders Peter (Mathias Herrmann kühl und schleimig), hohe Amtsperson in der Gemeinde, will Tomas den Tatbestand veröffentlichen, um zu erzwingen, dass das Bad saniert wird. Zeitaufwändig wäre das und nur mit immensen Kosten zu machen. Es beginnt ein Kampf der Brüder gegeneinander. Der eine vertritt die Moral und mutiert zum Revolutionär, der gegen die Lüge kämpft, „dass die Mehrheit die Wahrheit für sich gepachtet hat“, der andere vertritt die Macht des Geldes und setzt sich an die Spitze der skrupellosen Bürger, die als Mehrheit „immer das Recht auf ihrer Seite“ habe. In diesen Zwist werden alle hineingezogen, die Familie, die zunächst Auflagen witternden Macher des „Volksboten“ und die Bürger, hier vom Publikum dargestellt.

Ibsen hat gegen das Gewissenlose einer Gesellschaft protestiert, die nur an sich und ihr Einkommen denkt. Vielschichtig werden Bezüge herausgearbeitet und in einem immer dramatischer werdenden Prozess entwickelt. Davon allerdings ist in Mirja Biels Inszenierung wenig geblieben. Die Regisseurin, 1977 in Kiel geboren, verbindet viel mit Lübeck. Sie wurde hier zur Theatermalerin ausgebildet und hat nach Fassbinder, Kafka, Büchner und in der letzten Spielzeit Dostojewskij jetzt den „Volksfeind“ interpretiert, der im Programmheft „Enthüllungsdrama“ genannt wird. Sicher war das Werk des Norwegers als Gesellschaftssatire gedacht. Darauf verweist, dass selbst Tomas keine Identifikationsfigur ist. Ibsen nutzt zudem überzogene Charaktere und eine überspitzte Sprache, die z. B. mit einer militanten Ausdrucksweise und den Tiermetaphern Pointen setzt, während die Handlung starke Kontraste liebt.

Will Workman (Bo Horster), Jan Byl (Doktor Tomas Stockmann), Rachel Behringer (Katrine Stockmann)  Foto: Kerstin SchomburgWill Workman (Bo Horster), Jan Byl (Doktor Tomas Stockmann), Rachel Behringer (Katrine Stockmann) Foto: Kerstin Schomburg

Das scheint die Regisseurin, die auch das Bühnenbild gestaltete, bewogen zu haben, noch mehr zuzuspitzen und das Stück als Groteske zu gestalten. Aber allzu deutlich wird auf den Erfolg geschielt. Er wird bei einem Publikum gesucht, das einen vergnüglichen Theaterabend sucht. So wird Groteskes lustvoll, auch durchaus temporeich serviert, das in einer veritablen Schlammschlacht endet. Überzogene Charaktere, von elf Rollen auf acht zusammengestrichen, vermögen allerdings Ibsens innere Bezüge nicht darzustellen. Vor allem die fünfköpfige Familie des Arztes wird auf zwei Personen geschrumpft. So ist die Rolle der Ehefrau, die immerhin das bei Ibsen wichtige Problem familiärer Existenz verkörpert, einfach gestrichen, ihr Name der Tochter übergeben. Die wiederum, eigentlich eine hinter dem Vater stehende junge Lehrerin, darf sich vor allem als Sängerin outen. Nummern von Tocotronic wie „Aber hier leben, nein danke“ oder Schleimkeims süßer „Geldschein“, der „ständig den Besitzer wechselt“, wenden sich an ein junges Publikum, wie auch „Was ist hier los?“, die Frage der Band „Die Sterne“. Ihr Mitglied war Richard von der Schulenburg, der für diesen Abend die Musik beisteuerte.

Vor allem die Songs sind Katrine Stockmann, Mixtur aus Mutter und Tochter, in die Kehle gelegt und werden von ihrem Bühnen-Alias Rachel Behringer durchaus genussvoll dargeboten. Am Klavier begleitete Will Workman, der zugleich Bo Horster verkörpern sollte, aus dieser arg zusammengestrichenen Rolle aber nichts machen konnte. Stattdessen brauste er am Flügel auf mit der teils bombastisch wirren, teils sich wie eine atonale Invention gebenden Bühnenmusik. Zur Karikatur werden die drei Zeitungsleute, im Original Männer. Sein Geschlecht durfte Billing behalten (Patrick Berg), ein unbedarfter Volontär, der täppisch bei den Damen ankommen möchte. Astrid Färber (sehr vital) als Verlegerin Aslaksen und zugleich Vereinsvorsitzende der Hausbesitzer zeigt mit verschrobener Haartracht, dass in Ibsens Männerwelt auch Frauen eine Rolle spielen könn(t)en. Sina Kießling schließlich hat mit schrullig wirrer Frisur und farbig boshaftem Kostüm (Katrin Wolfermann) den Redakteur Hovstad zu mimen.

Will Workman (Bo Horster), Matthias Hermann (Peter Stockmann), Patrick Berg (Kristof Billing), Jan Byl (Doktor Tomas Stockmann), Foto: Kerstin SchomburgWill Workman (Bo Horster), Matthias Hermann (Peter Stockmann), Patrick Berg (Kristof Billing), Jan Byl (Doktor Tomas Stockmann), Foto: Kerstin Schomburg

Auf der Bühne steht ein übergroßer weißer Rahmen, der im Hintergrund eine Art Wohninterieur zeigt, mit Tischen und Stühlen rechts, einem gerade noch sichtbaren Flügel links und hinten zwei Flächen. Sie werden durch Projektionen bebildert, bei denen Overheadprojektoren mit unbedarft wirkenden Folien Urständ feiern. Auf das Proszenium mit schwarz-glänzendem Boden, der den Damen mit hochhackigen Pumps Probleme bereitete, führt weiß eine sinnbildliche schiefe Ebene.

Fazit
Zu sehen ist eine nicht stimmig wirkende Inszenierung, die lustvoll ihre Vorlage bis zur Unkenntlichkeit versimpelt. Das Theater darf aktualisieren, dadurch auch anderes in den Vordergrund stellen. In diesem Fall wäre aber ehrlich gewesen, diesen Abend als einen „Neuen Volksfeind“ nach Motiven von Ibsen anzubieten. Er hätte an politischer Brisanz gewonnen.


Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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