Gerard Quinn (Celebrant), Street-Chorus, Chöre

Hoffnung auf Versöhnung
Fulminante Erstaufführung von Leonard Bernsteins „Mass“ am Theater Lübeck

Wer an Bernstein denkt, dem fällt ein extrovertierter Typ mit ewiger Zigarette ein. War Bernstein ein gläubiger Mensch oder „nur“ sehr weitsichtig?

Das Stück „Mass“ zeichnet das Bild eines Priesters, der eine Glaubenskrise durchlebt, während ein Straßenchor die Kirche stürmt und ihn in arge Bedrängnis stürzt. Sie bringen ihn so weit, dass er die Contenance verliert und selbst zum Fragenden wird.

Tänzer, Street-Chorus, ChöreTänzer, Street-Chorus, ChöreFest steht, Bernstein war ein höchst politischer Mensch, der nicht nur 1987 die Orchesterakademie des SHMF gründete. Sein moralisch-politisches Werk ist „Mass“, das 1971 zur Eröffnung des John F. Kennedy Centers zur Aufführung gebracht wurde, beweist diese These über seine Einstellung.

Das Theater Lübeck wagt sich was, wenn es als Lübecker Erstaufführung „Mass“ auf den Spielplan setzt.

„Mass“ ist mehr als ein Stück über eine katholische Messe, es kratzt an den Wurzeln des Menschseins. Bernstein und sein Co-Autor Stephen Schwartz haben es geschafft, aus diesem brisanten Thema ein mitreißendes Bühnenstück zu performen. Als Regisseur ist Tom Ryser ein Glücksfall, er lässt die Mitwirkenden – immerhin 100 an der Zahl – nicht nur herumwuseln, sondern schafft es, ihnen Format zu verleihen. Es tummeln sich Chor und Extrachor des Theater Lübeck, der Kinder- und Jugendchor „Vocalino“, der Chor der Musik- und Kunstschule Lübeck, der Phemios Kammerchor Lübeck und Mitglieder des Nordelbischen Knabenchors auf dem Set. Ryser lässt auch einige Mitglieder des Orchesters auf der Bühne musizieren. Das Publikum wird einbezogen, indem der Chor teilweise im zweiten Rang singt und das Parkett belebt.

Obwohl das Bühnenbild des Stefan Rieckhoff auch nicht arm an Einfällen daherkommt, ist das Kircheninnere in Anlehnung an die Marienkirche konzipiert. Das Totentanzfenster von Alfred Mahlau schafft gewissermaßen Verbindung zu den Straßenchören, die in mit Skelett bemalter Kleidung mit Totenköpfen auftreten.

Caroline Nkwe und Gerard QuinnCaroline Nkwe und Gerard Quinn

Dies ist auch der Abend des Gerard Quinn. Abgesehen von seiner stimmlichen Präsenz vermittelt er glaubwürdig, dass ein denkender Mensch sehr wohl voller Zweifel und Selbstzweifel sein kann. Das Kind an seiner Seite, ein gefestigter Knabe, Ian Jans. Zu Recht wird er mit Sonderapplaus bedacht. Lob an alle Mitwirkende, die vier TänzerInnen runden das Bild ab. Lillian Stillwell leistet vorzügliche Arbeit. Andrew Cummings kehrt immer wieder in eine wunderbare 5. Position zurück. Andreas Wolf am Pult darf uneingeschränkte Bewunderung kassieren. Das Philharmonische Orchester Lübeck wirkt unter seiner Leitung eindrucksstark. Die Rock Singers erfüllen ihre Aufgabe, die Chöre - nie so unverzichtbar wie hier.

Mit diesem Stück ist Lübeck um ein Theaterereignis reicher. Gerade heute muss jeder von uns bereit sein, Schuld und Ungerechtigkeit zu hinterfragen. Annäherung anstatt Konfrontation.

Fotos: (c) Olaf Malzahn

Helga Rottmann
Helga Rottmann
Immer wieder musste der Großvater dem Kind "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh'n" aus "Mignon" vorsingen. Das zielte auf ein Gesangsstudium. Dennoch der Wechsel zur schreibenden Zunft. 15 Jahre Kultur-Redakteurin bei einem Lübecker Blatt. Schreibt seit 2012 für "unser Lübeck". Schwerpunktthemen: Oper, Operette, Musical, SHMF.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.