Patrick Berg (Val Xavier), Susanne Höhne (Carol Cutrere) Foto: Falk von Traubenberg

Der Mythos von der freien amerikanischen Gesellschaft
Tennessee Williams „Orpheus steigt herab“ in den Kammerspielen

Als am Theater Lübeck entschieden wurde, den uralten Mythos von Orpheus, dem Seelenfänger durch Musik, in Tennessee Williams Version auf den Spielplan zu setzen, ahnte wohl keiner, wie brisant „Orpheus steigt herab“ werden würde.

Das Drama aus den Fünfzigern spricht gerade die gesellschaftlichen Probleme an, denen der neue Präsident ein aufgeputztes Gesicht gibt. Es ist das Bild vom spießigen, brutalen, auch frauen-, fremden- und kunstfeindlichen Amerikaner.

Mehr als elf Jahre sind es her, seit Orpheus zuletzt an der Beckergrube herabstieg. Jetzt hatte er in Sebastian Schugs eher konservativ wirkenden, dabei präzise auf den Text eingehenden Inszenierung einen neuen Auftritt (Premiere: 3. Februar 2017). Als Hades-Ort baute ihm Christian Kiehl einen breiten, nach oben begrenzten Raum. Links bringen zwei rote Gartenstühle etwas Farbigkeit. Dahinter führen Stufen in ein Obergeschoss mit den Privaträumen. Gegenüber erinnern Regale mit einem kleinen Warensortiment und ein halbhoher Tresen mit Ladenkasse darauf, dass es der Laden eines Hökers ist. Der ist Lebenszentrum des kleinen Ortes in der Nähe von Memphis (Tennessee), besitzt vor allem das einzige öffentliche Telefon. Nach hinten öffnet sich links ein Gang zu einer Bar, den ein Spielautomat noch enger macht. In der Mitte verhängt ein Vorhang eine Kabine und weiter rechts führt eine türlose Öffnung in ein nebliges Außen, davor innen eine simple Holzpalette. Über die gesamte Breite spannt sich wie ein begradigter Fluss ein schmaler Läufer in orientalischem Muster. Dem Engen, Kahlen, auch Unbehausten des Ortes entsprechen Nicole Zielkes Kostüme, die dazu die drei wichtigsten Figuren mit wenigen Mitteln heraushebt.

Patrick Berg (Val Xavier), Sven Simon (Sheriff Talbott), Foto: Falk von TraubenbergPatrick Berg (Val Xavier), Sven Simon (Sheriff Talbott), Foto: Falk von Traubenberg

Besitzer des Hauses ist Sheriff Talbott, ein kalter, selbstherrlicher Gesetzesvertreter, der jedem droht, der anders denkt, sogar seiner in eine visionäre Welt ausgebrochenen Frau Vee, auch der jungen lebensgierigen Carol, die sich weigert, wie andere zu sein, und vor allem dem Fremden, der plötzlich in der gefügten Gesellschaft auftaucht. Mieter seines Hauses und Betreiber des Ladens sind der scheinbar todkranke Jabe und seine sehr viel jüngere Frau Lady. Italienischer Herkunft ist sie, attraktiv, aber ihrem Mann fatalistisch ergeben. In dieses Milieu hinein führt Tennessee Williams seinen Orpheus, im Stück Val Xavier genannt, was irgendwie nach „well“ und „saviour“ klingt. Ein „Guter“, ein „Retter“ oder „Heilsbringer“ ist er für zumindest drei der Frauen. Das bringt ihm den Hass der Männer, den des Sheriffs, des innerlich bitterbösen Jabe und der anderen Männer, unter ihnen der Bruder von Carol, der Lady einst schwanger sitzen ließ. Die weiteren Personen, vor allem Dolly und Beulah, Eva, füllen diese gesellschaftliche Unterwelt mit Bigotterie und zähem Twitter-Klatsch.

Williams verändert den Orpheus-Mythos, der von der Macht der Musik kündet und von der über den Tod hinaus währenden Kraft der Liebe. Bei Williams ist Val, gestaltet von Patrick Berg mit großer Ruhe und Zurückhaltung, mit seiner Gitarre Hoffnungsträger für Carol und Vee, besonders für Lady. Sein Spiel ist so angelegt, dass er die Balance hält zwischen Abweisung und Nähe zu ihnen. Von der schrillen, sich vergeudenden Carol, die Susanne Höhne exzessiv bis an die Grenze gehend gestaltet, muss er Abstand halten, um seinen Lebensplan nicht zu zerbrechen. Als Nachtclubmusiker kannte er die Leere des Vergnügens und war ihm mit seiner Gitarre entflohen, die seine Seele geworden ist und der er ganz zarte Töne entlockt. Der älteren Vee begegnet er mit distanzierter Teilnahme und Wärme. In dieser Rolle zeigt Astrid Färber, zuletzt als Vamp allzu häufig verbraucht, eine andere Seite ihres Könnens. Berührend, wie sie, gleichsam wie der blinde Seher Teiresias, ihre weißflächigen Bilder erklärt, ihre Visionen verkündet, und sich, ohne Größe zu verlieren, ihrem Mann beugt. Lady schließlich, die dem Fremden Arbeit und Unterkunft gibt, opfert Val seine schwer errungene Einsamkeit. Sie wird seine Eurydike. In der Rolle der Lady glänzt Agnes Mann, neu im Ensemble. Ihr hat Tennessee Williams eine wunderbare Rolle geschrieben, sie füllt sie mit Finesse. Es ist ein verästeltes Psychogramm einer enttäuschten, durch ein hinterlistiges Schicksal geprägten Frau, die über viele innere Stationen wieder zur Liebe findet.

Jan Byl (Dog Hamma), Nadine Boske (Dolly Hamma), Rachel Behringer (Beulah Binnings), Karin Nennemann (Eva Temple), Sven Simon (Sheriff Talbott), Timo Tank (Jabe Torrance), Agnes Mann (Lady Torrance)  Foto: Falk von TraubenbergJan Byl (Dog Hamma), Nadine Boske (Dolly Hamma), Rachel Behringer (Beulah Binnings), Karin Nennemann (Eva Temple), Sven Simon (Sheriff Talbott), Timo Tank (Jabe Torrance), Agnes Mann (Lady Torrance) Foto: Falk von Traubenberg

Die weiblichen Gegensätze dazu, die engstirnig zufriedene Welt voller Voreingenommenheit und Klatschsucht, illustrieren Nadine Boske als schwangere Dolly und bigotte, Nägel kauende Beulah erfreulich nuancenreich. Die bösere Männerwelt ist aufgefächerter. Timo Tank macht aus Jabe eindringlich den Gehässigen, der voller Lust seine Frau zermürbt. Sven Simon entwickelt mit sehr leisen Gesten den bitterbösen Provinzsheriff, der auf alles Fremde mörderische Treibjagd macht. Karin Nennemann schließlich und Jan Byl beweisen gleich in mehrere Rollen unterschiedlicher Art, dass sie mit wenigen Mitteln Akzente setzen können.

Es ist ein langer Abend. Der Text ist kaum gekürzt. Durch das intensive Spiel aber kommt er nachdrücklich an. Viel Applaus gab es bei der Premiere (3. Februar 2107) für diese beklemmende Sicht auf eine erstarrte Gesellschaft, die man überwunden glaubte. 

Fotos: Falk von Traubenberg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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