Theater Lübeck, Ensemble, Chor, Statisterie, Foto: Oliver Fantitsch

Rossinis „Reise nach Reims“ in Comicversion

Es beginnt mit einer rasanten Kutschfahrt und einer gehörigen Bruchlandung. Untermalt vom beschwingten rossinischen Crescendo stürzen Pferde, Räder und Wagenteile, Koffer und Stiefeletten, Handtasche und Hut herab.

Doch, wie im Comic so üblich, fügt sich alles wieder zusammen. So auch in der neuesten, in Lübeck erstmaligen Inszenierung von Gioachino Rossinis „Die Reise nach Reims oder Das Hotel zur Goldenen Lilie“. Das Besondere dieser Inszenierung ist, dass sie die reale Bühnenhandlung mit der der Trickfilme auf der rückwärtigen Leinwand verbindet. Ein aufwändiges Spektakel ist das, weswegen die Theater in Kiel und Lübeck mit der Fondazione Arena di Verona kooperieren.

Anlass für Rossinis Dramma giocoso mit einer wechselvollen Geschichte war 1825 in Reims die pompöse Krönung des reaktionären und von der Julirevolution nach knapp sechs Jahren wieder hinweggefegten Bourbonen Charles X Philippe. Rossini, der sich selbst in Paris erst im Jahr zuvor niedergelassen hatte, sollte die festliche Gesellschaft in Paris belustigen, verfehlte allerdings dem Vernehmen nach zumindest beim König seinen Auftrag. Der gähnte.

Theater Kiel, Foto: Olaf StruckTheater Kiel, Foto: Olaf Struck

Sehr verworren, die Handlung

Schwer zu prüfen, woran das lag. Was Rossini sich musikalisch einfallen ließ, war geistreicher, stilistisch variabler, technisch die Sänger herausfordernder Belcanto der schönsten Art für Solisten, Ensemble und Chor. Dass er sein Werk nicht ernst nahm, nur die Musik anderweitig verwandte, lag wohl an dem bizarren Stoff, der eines nicht hatte, eine nur irgendwie geartete stringente Handlung. Eine gemischte Gesellschaft strandet einen Tag vor den Krönungsfeierlichkeiten im Hotel zur Goldenen Lilie, kommt gar nicht erst ans Ziel. Die Herberge ist ein Badehotel und wird von Madame Cortese, einer Tirolerin, mit einem großen Mitarbeiterstab geführt, darunter Don Prudenzio als Badearzt sowie Maddalena, die Hausdame, und Antonio, der Hausmeister. Einige Gäste scheinen bereits vor Ort zu sein, als die Kutsche der modenärrischen Contessa di Folleville einen Unfall erleidet und sie alles verliert. Der Kummer der jungen, verwitweten Französin ist groß, bis sich einer ihrer Hüte anfindet.

Den Hof macht ihr der elegante französische Cavaliere Belfiore. Doch auch um die anderen Damen bemüht er sich, um Corinna, die berühmte römische Sängerin, heimlich verehrt vom trinkfreudigen englischen Oberst Lord Sidney, und um die polnische Marchesa Melibea, lebens- und liebeslustige Witwe eines italienischen Generals. Letztere umwerben zusätzlich ungestüm und eifersüchtig der Conte di Libenskof, ein russischer General, sowie der temperamentvolle spanische Admiral Don Alvaro. Weitere Gäste sind der Italiener Don Profondo, Literat und Freund von Corinna, und der deutsche Major Barone di Trombonok, ein fanatischer Wagnerianer und Mitglied verschiedener Akademien, zudem besessener Sammler von Altertümern. Und auch die junge griechische Waise Delia als Reisebegleiterin Corinnas, dann Modestina und Don Luigino, sie Zofe und er Cousin der Contessa di Folleville, geben reizvolle Schattierungen im Kolorit der Charaktere.

Steffen Kubach (Baron von Trombonok), Ensemble, Chor des Theater Lübeck, Foto: Oliver FantitschSteffen Kubach (Baron von Trombonok), Ensemble, Chor des Theater Lübeck, Foto: Oliver Fantitsch

Doppelbödiges Konzept

Quer durch Europa reicht so das menschliche Sammelsurium, darin die Franzosen und Italiener deutlich bevorzugt. Reichlich Motive gibt das für Rivalitäten und banale Vorurteile, für karikierende Verhaltensweisen bis hin zu erotisch drastischen Vergnügungen und tagespolitischen Anspielungen auf Brexit und Merkel. Ausflüge in die Mythologie werden unternommen, bei denen Jupiter Blitze schleudert, Amor wenig treffsicher Pfeile verschießt und Pan auf Leinwand und Bühne Spektakel treibt. Temporeich und gewitzt ist dieses Regiekonzept des Regisseurs Pier Francesco Maestrini und des Cartoonisten Joshua Held. Sie hatten schon für andere Opern Rossinis die Idee, verfilmte Comics mit realen Sängern zu verbinden. Vorbild mögen die mitreißenden Inszenierungen der Prager Laterna Magica gewesen sein.

Den Überblick über die verflochtene Gesellschaft zu behalten, ist nicht einfach. Die riesigen Figuren auf der Leinwand stehlen manchmal den Sängern die Schau. Um die Solisten zu kennzeichnen, hat Alfredo Troisi, dritter Italiener im Regieteam, sie in teils groteske Kostüme gezwängt, die die jeweiligen Landesfarben nutzen und Länderklischees verstärken. Die andere Schicht, die Schar der übergroßen Angestellten, ist schwarz-weiß gekleidet und balanciert langnasige Köpfe mit vorstehenden Augen und schwarzen Frisuren. Die Choristen, die sich darunter trippelnd bewegen, singen durch einen Gazeschleier hindurch. Eine große Leistung ist das, dabei noch präzise zu sein.

Die große Anzahl an Solisten, ein anderer Grund, weshalb das Werk von kleineren Bühnen kaum besetzbar ist, hat es nicht weniger schwer. Punktgenau müssen sie während artistischer Partien auf die bewegten Comics reagieren, Vögel auf ihren Arm oder Kopf landen lassen, Pillen auf ausgestreckte Zungen legen oder England den Brexit verwehren. Das ist durchweg sehr trick- und einfallsreich, macht richtig Spaß, allerdings bei deutlicher Dominanz der Comics. Nur die zerborstene Kutsche fliegt als Running Gag allzu häufig vorbei. Und auch Corinnas Lobeshymne im Seria-Stil, ihr Beitrag im Potpourri europäischer Gesänge im letzten Bild, ist schwach ausgearbeitet. Man kann den geehrten Charles verstehen, dass er seinem Schlafbedürfnis nachgab.

Theater Lübeck, Andrea Stadel (Madame Cortese), Foto: Oliver FantitschTheater Lübeck, Andrea Stadel (Madame Cortese), Foto: Oliver Fantitsch

Große Leistungen

Beide norddeutschen Inszenierungen leitete der Kieler stellvertretende GMD Daniel Carlberg und accompagnierte stilgerecht vom Hammerklavier aus. Gut gearbeitet und transparent klangen in Lübeck die für Rossini so typischen orchestralen Steigerungen (Premiere am 28. Januar 2017), schön auch die Soli von Harfe oder Flöte. Die Tempi, dazu die Lautstärkeverhältnisse stimmten zumeist. Die Erschwernisse, die der von Jan-Michael Krüger einstudierte Chor durch die Masken hatte, war kaum zu vernehmen – eine große Leistung.

Bei der Fülle der Sänger war es erfreulich, wie sicher sie alle waren, im Solo und in den vielen Ensembles, bei den Koloraturen wie beim Parlando. In den tragenden Frauenrollen waren als Soprane Efmorfia Metaxaki (Corinna), Emma McNairy (Folleville) und Andrea Stadel (Cortese) dabei, nahezu gleichrangig und sehr beweglich im Spiel. Der buhlerischen Melibea gab Wioletta Hebrowska ihren klangvollen, zugleich gut schattierten Alt. Die Tenorpartien sangen Marco Stefani (Belfiore), einziger Gast bei dieser großen Ensembleleistung, und Daniel Jenz (Libenskof), doch beide mit eher lyrischem Timbre. Seinem Bühnennamen gemäß profund klang der komödiantische Taras Konoshchenko. Beweglich waren Johan Hyunbong Choi (Alvaro), Seokhoon Moon (Prudenzio) und mit auserlesener Darstellung Steffen Kubach (Trombonok). Bei ihm und in einigen anderen Rollen war zu genießen, wie gut nationale Eigentümlichkeiten bei Darstellern gleicher Herkunft wirkten, besonders genüsslich zu erleben, wie der gebürtige Schotte Gerard Quinn die Partie des Lord Sidneys gestaltete.

Man kann diesem Werk nachsagen, dass es eigentlich keine Oper ist. Aber was in dieser Inszenierung daraus gemacht wurde, ist geistreich und kam beim Publikum hervorragend an.

Fotos: Oliver Fantitsch und Olaf Struck

Video: Theater Kiel

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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