Annäherung an Maurice Ravel im Tanz
Ballettpremiere im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Schlicht Ravel heißt das erste Ballett, mit dem Jutta Ebnother, neue Ballettdirektorin am Staatstheater, das Schweriner Publikum überzeugen wollte (Premiere: 7. Oktober 2016) und – es sei gleich gesagt – auch tat. Seit Anfang August probte sie mit ihrem neuen Ensemble, keine ganz neue, aber reduzierte Truppe. Denn auch das Staatstheater Schwerin leidet unter dem Druck einer leeren Kulturkasse.

Von 16 auf jetzt 12 Tänzer musste der in dieser Spielzeit ebenfalls neue Intendant Lars Tietje das Corps schrumpfen lassen, womit die Art des Balletts immer weniger möglich sei, die bislang klassisch und am Gruppentanz orientiert gewesen sei. Mehr Tanztheaterelemente sollen einfließen. Dafür hatte er vom Theater Nordhausen seine Ballettdirektorin Jutta Ebnother mitgebracht, die dort mit eigenen Choreografien auf sich aufmerksam gemacht hatte, darunter ihre Annäherung an Maurice Ravel (1875-1937), mit der sie nun in einer etwas veränderten Version auch an ihrem neuen Wirkungsort begeisterte. 

„Es gibt keine rätselhaftere Figur in der Galerie der neueren Komponisten als die Maurice Ravels“, schrieb 1958 Hans Heinz Stuckenschmidt, der bedeutsame Förderer der Neuen Musik. Eben dieses Rätselhafte, dazu „die Komplexität seiner Person“ reizte Jutta Ebnother, wie in einem Interview mit ihr im Programmheft zu lesen ist. Drei Kompositionen hatte sie ausgewählt, sich seiner merkwürdig verborgenen Persönlichkeit über den Tanz zu nähern. Die erste war eines der ausdrucksstärksten impressionistischen Streichquartette. 1902 bis 1903 schrieb Ravel es als sein op. 35, um sich mit ihm für den Prix de Rome zu bewerben. Dass es nicht angenommen wurde, erstaunte nicht nur Zeitgenossen. Auch heute vermittelt sich sein Reiz unmittelbar, selbst in einer notwendigerweise vergröbernden Fassung für Streichorchester, die Martin Schelhaus für die Mecklenburgische Staatskapelle eingerichtet hatte und zusammen mit ihr darbot.

Anfangs sieht man auf eine zunächst reglose Personengruppe im Hintergrund der Bühne. Aus ihr heraus schält sich ein einzelner Tänzer mit weichen, suchenden Schritten. Dann folgt die ganze Gruppe, füllt den Raum. Jetzt wird deutlich, dass sie sich von einem Schreibtisch, dem Arbeitsplatz des Komponisten, gelöst hatten, der im Verlauf der Choreografie immer wieder als Zentrum, als Zufluchtsort dient. Den einzelnen Tänzer deutet man als Ravel (Giuseppe Salomone), bis klar wird, dass alle Ravel sind, Spiegelungen seiner vieldeutigen Person, Tänzer wie Tänzerinnen. Das spielt auf Ravels A-Sexualität an. Fast nichts ist bekannt auch über diese Seite seines Wesens. Die doppelreihig geknöpften Westen, die die Arme bloß lassen, bei den Damen auch die Schulterpartien, und die Anzughose sind beige und haben ein dezentes Glencheck-Muster (Ausstattung: Udo Herbster). Dazu tragen sie fein gemusterte Halstücher und Schuhe, beides pinkfarben, die Schuhe nur kräftiger getönt. Dezent spielte alles wie der Oberlippenbart und die strengen Frisuren auf Ravels stets gepflegtes Auftreten, auch auf sein Dandytum an, das noch durch ein Spielelement, die Spazierstöcke, verdeutlicht wird.

Der weitere Ablauf hat keinerlei direkte Bezüge zu den wenigen Ereignissen, die dennoch über das Leben Ravels bekannt sind. Lediglich der sich allmählich andeutende körperliche Verfall, der durch Gesten,
Kopfhaltung, Mühsal im Sich-Bewegen, durch Bizarres und Verrenktes aufgefangen wird, ist biografisch zu deuten, auch seine Vereinsamung und seine zunehmende Schwierigkeit zu komponieren. Alles nimmt die Choreografie auf, wobei jeder der Tänzer in irgendeiner Form das andeutet. Die Choreografie gestaltet das sehr dezent, mal im Solo, mal in kleinen Gruppen. Dennoch sind Pas de deux oder trois die Ausnahme, ein Kennzeichen der choreografischen Handschrift. Ihre Stärke ist, dass sie mit wenigen Ausnahmen alle beschäftigt, eine große Leistung des gesamten Ensembles!

Die nach der Pause folgenden Werke sind in ihrem Tanzcharakter genauer, wurden auch als eine Art Einheit choreografiert. Tzigane, 1924 komponiert, und der vier Jahre später entstandene Bolero sind weithin bekannt. Die frühere Komposition mit ihrem rhapsodischen Charakter hat klar umrissene Episoden, die die Tänzer im Solo oder in kleinen Gruppen mit Witz formten. Der erste Kapellmeister des Orchesters, Volker Reinhold, hatte den schweren Solopart übernommen und auf der Bühne Aug in Aug mit den Tänzern gestaltet. Höhepunkt aber wurde der Bolero, den Jutta Ebnother mit viel Ironie als eine Art Trainingseinheit auffasste. Lange weiße T-Shirts mit kurzen Hosen in einem sehr hellen Blau darunter erinnerten an Fitnesshalle, die kräftig rote Stiefel an ein Boxsparring. Bewegungsmuster daraus und andere Arten von Körperertüchtigung wurden mit Komik gestaltet, oft mit Schritten und Bewegungen, die den strengen Refraincharakter der Musik Ravels aufbrachen.

Es war ein sehr gelungener Abend, bei dem auch die einzelnen Teile auf eindrucksvolle Art miteinander verknüpft waren. Nicht zuletzt hatte das Orchester unter Martin Schelhaus durch seinen besonderen Einsatz Anteil am Erfolg.


Fotos: Silke Winkler

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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