Päderastie zwischen Gazevorhängen
Michael Wallners Sicht auf Thomas Manns „Tod in Venedig“

Michael Wallner avanciert immer mehr zum Hausregisseur am Theater Lübeck.

Einiges hat er hier schon ausgeführt. Auf Textdestillationen aus Thomas Manns Breitbandwerken in früheren Spielzeiten (Zauberberg, Felix Krull) und Inszenierungen im Sprech- und Musiktheater (Black Rider, Mephisto, Willy Brandt oder Armide, Lustige Witwe, Weißes Rößl), folgte kürzlich die Kammeroper Abenteuer des Königs Pausole. Nur zwei Wochen später ist es nun als Finale in dieser Spielzeit ein Exzerpt von nicht einmal eineinhalb Stunden Spieldauer aus Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (Premiere: 4. Juni 2016). Es ist Dessert quasi (oder doch nur Zwischengang?) zum in die Jahre gekommenen „Wagner-trifft-Mann“-Menü, allerdings nicht primär für Lübeck bearbeitet, sondern als Rezept bereits an anderen Theatern erprobt.

Reduziert auf die allerwichtigsten Handlungselemente gibt die Bearbeitung zunächst einmal zu erkennen, dass in der höchst kunstvoll gefügten, überaus reich mit Anspielungen auf Kultur, Mythos oder Philosophie gespickten Novelle das Allermeiste verzichtbar ist. Nur, was treibt dieses epische Werk dann auf die Bretter des Sprechtheaters? Die Sprache ist erlesen, zwingt eigentlich zum „Er-lesen“. Wallner hält sich zwar an Manns Idiom, traut ihm aber nicht, stutzt es stark, teils pointillistisch zusammen. Manche ausführliche Beschreibung gibt er Figuren in den Mund, die hinzuerfunden sind. Auch wenn sie Namen bekommen, sind sie noch lange keine Charaktere. Sie wirken wie Choristen in der attischen Tragödie, wissen mehr als der Agierende, lenken und leiten, nehmen ihm seine Schuldfähigkeit.

Die von der Hauptfigur gesuchte Einsamkeit verhindert schon bei Thomas Mann Dialoge. Manche lassen sich trotzdem finden, vorzüglich bei der ersten Gondelfahrt, auch später bei der Coiffeur-Szene. Manchmal aber zwingt es zu Einfällen, die bühnenwirksam sein oder doch etwas Zwischenmenschliches hervorrufen müssen, wie bei der Szene, in der er den einsamen Entschluss fasst abzureisen, oder bei der mit dem heimlichen Venedig-Besuch. Ein anderer Einfall ist der, zwei aus der Zeit gefallene Figuren einzufügen. Sie wirken wie Ballermann-Touristen. Doch was sie reden, stammt auch von Thomas Mann, aus seinen Tagebüchern. Wenn man weiß, Wallner weiß es sicher, dass die ganze Novelle auf persönlichen Eindrücken von Thomas Mann basiert, setzt er un(?)beabsichtigt das Erleben beider, seiner Hauptfigur und dieser beiden Schwadroneure, auf das gleiche Niveau.


Andreas Hutzel und Phillip Gutberlet

Zu denken gibt auch der Umgang mit den Grundthemen, dem Ausnahmedasein des Künstlers, vor allem aber mit dem der Päderastie. Gustav von Aschenbach, gelehrt, gealtert, befällt plötzlich die Knabenliebe. Auch wenn er sie mit allen geistigen Tricks sublimiert, muss er doch einsam seinen berühmten Tod am Lido erleiden. Wallner sieht das anders. Er lässt Andreas Hutzel, intensiv wie immer, den ausgelaugten Künstler mit allen Zeichen physischer Schwäche spielen. Nur muss er dabei aus der Rolle fallen. Thomas Mann hatte tunlichst vermieden, dass er Tadzio, das Objekt der Begierde, körperlich berührt. Wallner dagegen erlaubt Aschenbach mit dem Knaben sogar einen Walzer. Hübsch langsam und genießerisch geht das, damit er ihn in seinen Armen, Bauch an Bauch, fühlen kann. Was Thomas Mann mit aller Könnerschaft zu vergeistigen versuchte, gerät bei Wallner vordergründig.

Alles geschieht zwischen verschleiernden Gazevorhängen. Das großartig erfundene Bühnenbild von Heinz Hauser, kunst- wie stimmungsvoll, schafft tatsächlich, dem Ganzen einen inneren Halt zu geben. Zwischen den Vorhängen befindet sich der eigentliche Aktionsraum, in dem gewölbte Bühnenstege zu Grabwegen, Gondel oder Tisch werden. Rote Stäbe, auch als Riemen für den Gondoliere benutzt, betonen die Senkrechte. Im Hintergrund wird eine Art Oberbühne zum Schaufenster für besondere Momente. Auf die Gaze projiziert Hauser zumeist sehr schemenhaft Reminiszenzen an Venedig. Das und der Bühnennebel haben ein intensives Eigenleben. Sie rufen allerdings eher graue Novemberstimmung als die von Sommerschwüle auf dem Lido hervor. Mit großem Bedacht sind die zeitbezogenen Kostüme von Angelika Lenz in Schwarz und Weiß gestaltet. Sie fügen sich nicht nur den Personen an, passen auch stimmig ins Bühnenbild. Ein weiteres Plus ist Willy Daums Bühnenmusik. Wunderbar sinnlich belebt das Trio die Szenen. Auch das passt in die Zeit, hat mit der Klarinettenkantilene sogar leitmotivisches Gewicht. Nur die Musik zum Schluss ist allzu abstrakt.


Matthias Hermann, Robert Brandt, Will Workman, Nadine Boske, Katrin Hauptmann

Die Schauspieler neben Hutzel bewegen sich gekonnt, werden in Wallners Regie gut geführt. Sie alle sind Typen, oft in Mehrfachrollen. Katrin Hauptmann ist als Hausdame eine distinguierte, auffällige Erscheinung. Nadine Boske kann sich besonders als Zimmermädchen beweisen. Bei den Herren hat Matthias Herrmann gleich vier Rollen, denen er allen Profil gibt. Will Workman sticht vor allem als Gondoliere hervor und später mit einer Gesangseinlage. Zusammen muss er mit Robert Brandt die merkwürdige Einlage gestalten. Brandt dreht allerdings vor allem als greiser Geck zu sehr auf. Tadzio bleibt stumm, wird aber sehr stilvoll von dem Schüler Philipp Gutberlet verkörpert. Und auch seine „Familie“ mit Nataliya Konoshchenko (Mutter), Martha Pritzkuleit (Schwester) sowie Helga Freyer (Gouvernante) zeigte in ihrem stummen Auftritt viel Präsenz.

Trotz des Beifalls fragt man sich, was das Theater oder Michael Wallner mit dieser Bearbeitung erreichen wollte. Dem Text von Thomas Mann ist, so verkürzt, nicht gedient, im Gegenteil. Einem Publikum zu gefallen, das nur auf Äußeres aus ist, kann mit solcher Bebilderung einer vielschichtigen Novelle nicht Sinn und Zweck des Theaters sein. Dass auch heute noch ernste Themen wie das der Päderastie, auch das der Ausnahmeerscheinung eines Künstlers von Bedeutung sind, kann in dieser Form der Verknappung kaum erfasst oder gar vermittelt werden.

Fotos: Falk von Traubenberg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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