Gluck in einer zeitgemäßen Variante des Mythos von Orpheus und Eurydike
Eine Inszenierung an der Oper in Kiel

Das Theater Kiel hat sich im Bereich der Oper eines Werkes angenommen, das in der Geschichte dieser Bühnengattung an einem markanten Wendepunkt steht. Es ist der Schritt von der Barockoper mit ihren auf den Adel zugeschnittenen Inhalten und einem weithin genormten Formenarsenal hin zu einem Kunstwerk, das das menschliche Leben spiegelt und in den Ausdrucksmitteln variabel ist. Den Wandel leitete Christoph Willibald Gluck vor 250 Jahren mit seiner Opernreform ein.

Für sein bedeutendstes Werk in diesem Bereich wählte er den Mythos von Orpheus und Eurydike, in dem vom Traum aller Liebenden erzählt wird, auch nach dem Tode eines Partners den anderen kraft der Liebe wieder lebendig zu machen. Darüber hinaus erzählt er von der Macht der Musik, die sogar die Unterwelt zu Mitleidshandlungen führen kann. Gluck fand in seiner Musik gültige, heute noch bewegende Töne und schuf damit zugleich ein Werk, das die musikalische Ausdruckswelt reformierte.

Gluck war nicht der erste, der den immer noch rührenden Stoff auf die Bühne brachte, gab seiner Version aber ein Happy End, an dem vor allem Amor mitwirkte. Die Kieler Oper hat Gluck nun in einer intelligenten Inszenierung, der letzten in dieser Saison (Premiere: 7. Mai 2016), neues Leben eingehaucht, ließ das Werk überraschend tragisch ausgehen, ein Ende, das grandios in unsere Zeit passt. Sie kündet von der Ohnmacht in der Trauer, von dem verwegenen Entschluss, mit der Totenwelt zu ringen. Und sie zeigt, wie der Anspruch von Gottvater Zeus, dem Menschen absoluten Gehorsam abzuverlangen, mit dem menschlichen Bedürfnis nach Zuwendung und Vertrauen in einen unlösbaren Konflikt gerät.

Die amerikanische Tänzerin und bedeutsame Choreografin Lucinda Childs hatte in Kiel schon einmal bewiesen, dass sie ein Werk wie Jean-Baptiste Lullys Atys, immerhin 350 Jahre alt, aufregend inszenieren kann. Jetzt wiederholte sie ihren Erfolg mit dem nur 100 Jahre jüngeren Musikdrama, indem sie die Handlung konsequent in unsere Welt versetzte, an den Ort, an dem heute zumeist der Weg ins Jenseits oder die Unterwelt angetreten wird. Eurydike stirbt in einem Krankenhausbett. Und Orpheus fällt in einen ohnmächtigen Schmerz, aus dem ihn Amor traumhaft entführt. Und dieser Hoffnungspender, göttlich zwar, aber Zeus untergeordnet, mutiert bei Lucinda Childs in eine Ärztin. Sie ist damit Vertreterin einer Zunft, die vortäuscht, mit Wissen und Technik den Tod überlisten zu können. Das aber gaukelt ein Happy End vor, führt Orpheus sehnsuchtsvoll in das Totenreich, lässt ihn Eurydike gewinnen und doch wieder verlieren. Ihre Beziehung zerbricht an der Strenge der göttlichen Bedingung, sich nicht ansehen zu dürfen. Doch noch einmal stärkt Amor die Illusion, bis überraschend, doch plausibel die Inszenierung damit endet, dass die Trugwelt versinkt und den verstörten Orpheus vor Eurydikes Kranken- und Totenbett zurücklässt. Das Herbe des alten Mythos‘ wurde bewahrt.

Orpheus durchwandert eindrucksvolle Spielräume, die der Grieche Paris Mexis schuf und die der deutsche Lichtdesigner George Tellos faszinierend ausleuchtete. Durch die Hebebühne öffnen sich sinnfällig zwei Ebenen, die Oberwelt mit kargen, weißen Wänden und übergroßen Türen, die Unterwelt mit sich wandelndem Interieur. Bereits im ersten Bild werden Zeichen gesetzt, die das Irreale bedienen. Rosen, fast zu banale Zeichen der Liebe, erleuchten gespenstisch die Gesichter, eine Wirkung, die etwas verpuffte, weil der Hintergrund zu hell war. Später treten aus den geöffneten Türen die Musiker des Bühnenorchesters auf und mischen sich klanglich ein. Eindringlich auch die rotglühende Unterwelt mit den seligen Geistern. Sie halten übergroße Kopfmasken. Vieles überzeugt, auch die Kostüme, weniger aber die „Vereinigungsfeier“ im vierten Akt, die allzu vordergründig zum Sektempfang verkommt.

Gesungen wurde in französischer Sprache, obwohl das Knappe einer früheren italienischen Fassung Pate stand, auch die Wahl eines Mezzosoprans für den Orpheus. Aus der späteren Fassung stammen die Klarinetten im Klangbild und, für das damalige Paris unumgänglich, das Ballett. Kiel hat selbst eine achtbare Truppe, die hier zwar sparsam auftrat, aber für szenische Belebung sorgte. Merkwürdig allerdings, dass Lucinda Child als bedeutsame Erneuerin in der Tanzkunst allenfalls beim Höllentanz etwas einfiel, sonst aber sehr konventionell gestaltete, zumal die Traumwelt auch Ausgefalleneres gestattet hätte.

Die musikalische Leitung hatte Rubén Dubrovsky, Sohn einer polnisch-italienischen Künstlerfamilie. Er ist ausgewiesener Spezialist für Alte Musik und wirkte auch schon beim Erfolg des Atys mit. Nach anfänglichen Schwächen zeigte sich das Kieler Orchester sehr inspiriert, zumeist auch in guter Balance zur Bühne. Ein paar Tempi überraschten, das Geschwinde „J’ai perdu mon Eurydice!“ etwa. Auch schon zu Beginn des zweiten Aktes, wo Orpheus das „Non“ der Furien durch einfühlsame Musik umzustimmen hat, musste die Georgierin Tatia Jibladze als Orpheus sich mühen, im (zu) schnellen Zeitmaß den schönen Klang ihrer Stimme zu entfalten. Der Eurydike lieh Kammersängerin Heike Wittlieb ihren warmen Sopran. Beiden gelang ein bewegendes Duett im dritten Akt. Den Amor hatte Hye Jung Lee mit ihrer soubrettenhaft klaren und schlanken Stimme übernommen. Erfreulich auch die Leistung des Kieler Chores (Einstudierung: Lam Tran Dinh), der musikalisch und im Spiel vielfach gefordert wurde.

Die Kieler Inszenierung ist noch am 22. und 26. Mai, am 7. und 19. Juni und am 1. und 7. Juli zu sehen. 

Fotos: Olaf Struck

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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