Foto: Kerstin Schomburg

Ein Schiffbruch bei Flaute
Shakespeares "Der Sturm" im Großen Haus

Erst zehn Minuten vor dem eigentlichen Beginn des Theaterabends öffneten sich die Saaltüren im Großen Haus. Der Sturm war angesagt, William Shakespeares letztes Drama.

Zuletzt war der Stoff vor fast genau sechs Jahren am selben Ort in einer Opernfassung zu erleben. Jetzt war er ausgesucht worden, das Shakespeare-Jahr zu begehen, 450 Jahre nach der Geburt des großen Dramatikers, 400 Jahre nach seinem Tode. Die Besucher der zweiten Aufführung am 12. Februar (Premiere: 6. Februar 2016) zeigten sich kaum beeindruckt von der offenen, weiß ausgeschlagenen Bühne, auf der links ein über Treppenstufen ausgestreckter Körper lag. Im weiten Raum verteilt standen wie in ruhiger See leicht wankende, schwarz gekleidete Gestalten, unschwer wegen ihrer auffälligen Haartracht und der besonderen Kleidung als Adlige zu erkennen. Ab und zu gaben sie einen Satz lautstark von sich, der aber wegen der Unruhe im Saal durch Sitzplatzsuche und Begrüßungen unverständlich blieb.

Optisch fiel ein Seil auf, das vom Bühnenboden rechts bis in den zweiten Rang gespannt war. An seinem oberen Ende stand beobachtend eine junge Frau, ebenfalls schwarz gewandet. Ein zweites Seil streckte sich schräg nach hinten. Eine Gestalt in weißer Kutte und übergestülpter Kapuze stand in der Mitte, dort, wo sonst ein Dirigent wirkt. Auch sie wandte den Rücken dem Publikum zu und hob ab und zu wie weisend die Arme. Später stellte sich heraus, dass ihr tatsächlich eine Art leitender Rolle zufiel. Prospero war es, der rechtmäßige Herzog von Mailand, nach dessen Plan die Handlung um Betrug und Intrige, um Rache und Vergebung ablief.

Man kennt das, dass die Regisseure schon vor Beginn auf das Stück zuführen, nur war dies hier anders: Eine ganze Szene wurde vorweggenommen. Aber nur wer das Stück gut kannte, konnte erfassen, dass es ein Rudiment der ersten Szene war. Bei Shakespeare schildert sie einen Schiffbruch in mörderischem Wellengewoge und das sie charakterisierende klägliche Verhalten etlicher Protagonisten. Alonso, König von Neapel, war mit einem Teil seines Gefolges den lebensbedrohenden Urgewalten ausgesetzt, die ihn und seine Umgebung in ihrer erbärmlichen Ohnmacht bloßstellten, das aber vor allem durch den Kontrast zu dem Verhalten der „einfachen“ Leute. Davon aber war bei diesem Regieeinfall von Patrick Schlösser, der auch die Bühnengestaltung besorgte, nichts übrig geblieben. Das spätere Auftreten als dümmliche, geckenhafte Potentaten hatte seinen Sinn verloren. Das Geniale dieser knappen Szene verpuffte.

Erst als die weiße Umhüllung der Bühnenwände herabrauschte, stellte sich ein sinnlicher Effekt ein. Man mochte an ein berstendes Segel denken, eine Folge des wütenden Sturmes. Zugleich war das der knallige Anfang der Inszenierung, die nun sehr zurückgenommen mit dem Vater-Tochter-Dialog begann, unten auf der Bühne Prospero, oben im Rang Miranda, seine Tochter. Auch dieser Einfall wirkte merkwürdig, schuf er doch für eine intime Beichte unnötig viel Distanz, was wiederum bizarres Geschrei nötig machte. Eine Art Aufklärungsgespräch war das, in dem Prospero der Tochter Herkunft und Gründe für das Leben auf dem Eiland aufdeckte. Damit warb er gleichzeitig um ihr Verständnis für seinen Plan, sich an seinem Bruder Antonio und an Alonso, beides seine Widersacher, zu rächen.

Kraftvoll und diesseitig spielte und sprach Timo Tank diesen nach Vergeltung dürstenden Herzog von Mailand. Er hatte sich zum listigen Magier entwickelt und sich Caliban, den wilden, missgestalteten Sohn einer Hexe, und auch Ariel, den Luftgeist, zu Diensten gemacht. Durch Caliban, sehr beweglich von Henning Sembritzki gespielt, hatte er die Natur zu verstehen gelernt. Ariel, der Luftgeist, half ihm, die Elemente in seinem Sinne zu lenken, Ursache dafür, dass der auf Prosperos Geheiß von ihm angefachte Sturm Alonso und Antonio auf die Insel trieb. Den Ariel verkörperte Will Workman bemüht, aber doch in seiner Erscheinung nicht luftig genug.

Streichungen sind nötig. Aber vieles wurde so verkürzt, dass der Zusammenhang nicht mehr herzustellen war. Als ein Beispiel sei die Figur des Gonzalo genommen. Dass man den ehrlichen alten Kanzler von einer Frau spielen ließ, mag hingehen. Astrid Färber tat das mit Würde, obwohl ihr ein paar Dialoge genommen wurden, das zu unterstreichen. Dass sein Dienstherr Alonso ihn als „alter Herr“ anredete, wirkte dennoch unfreiwillig komisch. Zudem legt Shakespeare dem Gonzalo eine utopische Weltvorstellung in den Mund, die hier sehr vordergründig, zudem verkürzt wiedergegeben wurde.

Gewicht dagegen bekamen die Rüpelszenen. Als versoffener Butler Stephano glänzte Robert Brandt, und Matthias Hermann war ihm mit seinem Komiker Trinculo ein guter Partner. Beide Schauspieler traten zudem in Doppelrollen auf. Das aber öffnete der Regie gleichzeitig eine Doppelbödigkeit, die die auf Mord sinnende Intrige gleich auf zwei Ebenen zeigte, auf adliger und auf niederer. Robert Brandt schaffte es dabei, Sebastian, den Bruder des Königs, menschlich ebenso primitiv aussehen zu lassen wie auch Matthias Herrmann den Antonio, den betrügerischen Bruder Prosperos. Dabei halfen die eher karikierenden Kostüme von Katja Wetzel, die die Hofgesellschaft in affektiertem Schwarz und auf erhöhten Schuhen wie auf Kothurnen einherstelzen ließ. Das gab vor allem Sven Simon als Alonso wieder Gelegenheit, seine wunderbar steife Gangart einzubringen.

Schwarz und Weiß dominierten als Farben, allein Ariels Rastafrisur stach in einem eher schmutzigen Rot hervor. Das junge Liebespaar dagegen, Josepha Grünberg als Merinda und Vincenz Türpe als Ferdinand, das das glückliche Ende auf allen Ebenen herbeiführte, hatte zum Schluss barfüßige Bodenhaftung.

Das Piktogramm zum Stück zeigt einen augenzwinkernden Shakespeare mit Einstein-Zunge. Schade, dass dieses Märchenspiel mit seinen hoffnungsvollen Utopien und seinem glückhaften Ende trotz einiger sehr schöner Szenen (z. B. die Marionettendarstellung!) nicht durchgängig den fantastischen, hoffnungsvollen Gestus besaß. Dennoch erhielt diese zweite Aufführung viel Beifall, obgleich einige Besucher nach dem etwas zähen ersten Teil in der Pause gingen. Dabei war die originale Spieldauer, die laut Programmheft zwei Stunden und 40 Minuten betragen sollte, um fast eine halbe Stunde gekürzt?!

Fotos: Kerstin Schomburg

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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