Maria am Stegel und neue Eckbebauung Mengstraße / Schüsselbuden, 1908, Archiv Hansestadt Lübeck

Maria am Stegel
Vor 75 Jahren zerstört, vor 50 Jahren abgerissen

Seit dem 15. Jahrhundert prägte die Kapelle Maria am Stegel die Nordwestecke des Marienkirchhofs zur Mengstraße hin. Zusammen mit den bescheidenen Häusern vor der Kirche am Schüsselbuden bildete sie eine architektonische Umrahmung, aus der St. Marien emporwuchs.

In der Brandnacht vom 28. auf den 29. März 1942 war der Nordturm der Marienkirche auf die Kapelle gestürzt, die massiven Außenmauern blieben dabei stehen. Als am 28. Februar 1967 einige Steine von der Ruine der Kapelle fielen, rückte die Feuerwehr an. Oberbrandrat Puchner entschied: entweder ein sofortiges Abstützen der Wand an der Mengstraße oder Abriss. „Die erste Möglichkeit hätte eine wochenlange Sperrung der Mengstraße zur Folge gehabt, also entschlossen sich Baurat Keck und Innensenator Peters für die zweite.“ (Lübecker Morgen, 1.3.1967) Feuerwehr und Verwaltung sorgten für eine schnelle Umsetzung: Noch am selben Tag drückte die Feuerwehr einen Teil der Mauern ein, die fünf Jahre zuvor nur notdürftig mit einer dünnen aufliegenden Betonschicht vor der Witterung geschützt worden waren. Für das schnelle Eingreifen zeigte sich die Kirche bei der Feuerwehr mit einem Geschenk von 300 DM erkenntlich. Die Feuerwehr wiederum dankte „für die aufmerksame Bewirtung ... mit warmen Getränken während des Einsatzes“.

Bagger im Einsatz, 4.3.1967. Foto: Hans Kripgans (© Lübecker Nachrichten)Bagger im Einsatz, 4.3.1967. Foto: Hans Kripgans (© Lübecker Nachrichten)

Nach der Reformation war die Kapelle als Geschäftsraum – unter anderem von Buchhandlungen – sowie als Speicher genutzt worden. Seit 1924 bemühte sich die Nordische Gesellschaft um das Gebäude, aus dem sie „einen dauernden Mittelpunkt für die deutsch-nordischen Beziehungen“ gestalten wollte; das gelang ihr aber nicht (dafür aber später im Haus Breite Straße 50). Zu dieser Zeit hatte die Kapelle eine vom Kirchenvogt für seine Arbeiten auf dem Kirchhof genutzte Lehmdiele­. Im ersten Stock arbeitete ein Tischler, den zweiten Stock nutzte der Uhrmacher Behrens, dessen Geschäft in Eckhaus neben der Kapelle lag, als Lager. Ab 1926 trieb der Kirchenvorstand von St. Marien den Umbau des von außen verwahrlost erscheinenden Gebäudes für Zwecke der Gemeinde voran. 1927/28 erfolgten die Umbauarbeiten, zu denen die Schaffung eines größeren Saales für den Konfirmationsunterricht und von Büros für die Kirchenverwaltung gehörte. Die „überspitzten“, noch etwas expressionistisch erscheinenden gemauerten Bögen des Saales sind auf einem der Abrissfotos zu erkennen (Foto siehe oben).

Im Oktober 1954 fragten die Lübeckischen Blätter „Was wird aus der Ruine ...?“ Vor der Sicherung und dem Wiederaufbau von St. Marien in den 1950er Jahren konnte für Maria am Stegel kein Geld aufgewendet werden. Im früheren Gang durch die Kapelle zum Marienkirchhof hatte sich ein Flaschenhändler eingenistet, ansonsten wusste man mit der Ruine nichts anzufangen. 1956 bemühte sich der Glaskünstler Carl Rotter erfolglos um das Gebäude als Werkstatt. Zu dieser Zeit lag bereits ein Entwurf für den Wiederaufbau für einen Gemeindesaal mit 300 Plätzen vor, und die Bauverwaltung begrüßte (noch) den Wiederaufbau: „Vom städtebaulichen Standpunkt wäre es sehr zu begrüßen, wenn die Ruine bald wieder hergestellt wird. Die Kapelle schließt in feiner Weise den Raum der oberen Mengstraße zum Schüsselbuden hin ab. Die Wiederherstellung ist daher unbedingt erforderlich. Alle Bestrebungen, die dazu führen, werden von der Bauverwaltung unterstützt“ (Stadtbaudirektor Hübler an Bürgermeister Böttcher, 27.7.1956).

Obere Mengstraße 1962. Foto: Hans Kripgans (© Lübecker Nachrichten)Obere Mengstraße 1962. Foto: Hans Kripgans (© Lübecker Nachrichten)

Mit dem Wiederaufbau der oberen Mengstraße, zu der auch die Schaffung der Blockzufahrt unter der umgesetzten Fassade Fischstraße 19 neben dem Buddenbrookhaus gehörte, wurde der bisherige „Standortvorteil“ der Kapelle als „feiner Abschluss“ der Mengstraße zum Problem: Jetzt begann sie dem wachsenden Verkehr im Weg zu stehen. 1962 titelte der Lübecker Morgen, der später seine Meinung deutlich änderte, noch: „Maria am Stegel vom Verkehr bedroht“. Ein Foto des LN-Fotografen Hans Kripgans machte zeitgleich die Kapelle als Störfaktor für den Verkehr sichtbar (Foto siehe oben). Im Laufe des Jahres führten Politik, Verwaltung, Kunsthistoriker, Denkmalpflege und Öffentlichkeit einen ausgedehnten Dialog über die Kapelle, die am Ende aber nur zu der oben genannten provisorischen Sicherung des Mauerwerks führte. Zum Jahresende fasste der Lübecker Morgen die Diskussion zusammen: Die Kapelle sei als „Maßstabsgebäude“ für die Marienkirche von großer Bedeutung, sie sei aber auch „ein Verkehrshindernis ersten Ranges“. Die Idee der Versetzung des Bauwerkes kam auf, um dieses Hindernis zu beseitigen: „Faszinierend dabei der Gedanke, (dass) zwischen zwei großen Parkanlagen – dem riesigen Binnenhof zwischen Beckergrube und Mengstraße und dem geplanten Parkhochhaus bei St. Petri – eine echte, großzügige Verkehrsführung bestehen könnte ...“ (Lübecker Morgen, 28.12.1962). In der autogerechten Stadt muss man auch Parkanlagen neu verstehen, lässt sich hier noch bemerken.

Die Diskussion um Maria am Stegel setzte sich 1963 fort; nun fokussierte sich die Stadtspitze unter Bürgermeister Wartemann auf den Abriss der Kapelle und den Neubau als „Maßstabsgebäude“ mit Nutzung von Teilen des historischen Baumaterials. 1964/65 schrieb die Stadt einen öffentlichen Wettbewerb zur Neugestaltung der Nord- und Westseite des Marienkirchhofes aus. In der Ausschreibung hieß es, die Kapelle müsse aus verkehrlichen Gründen entfernt und solle näher an der Marienkirche wieder aufgebaut werden. Eine Rekonstruktion sei nicht notwendig, ein Neubau in der „Umrissform“ ihres Baukörpers genüge. Der Wettbewerb erzielte bundesweite Aufmerksamkeit, 105 Architekten forderten die Unterlagen an, 40 Entwürfe wurden eingereicht. Das Gebäude sollte auch das Standesamt aufnehmen. Als dieses jedoch in die Linde-Villa in der Ratzeburger Allee zog, gab man Abriss und Neubau auf und verstaute die angekauften Architektenentwürfe im Planschrank der Bauverwaltung.

Maria am Stegel, Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustandes, 1962, Archiv der Hansestadt LübeckMaria am Stegel, Rekonstruktion des mittelalterlichen Zustandes, 1962, Archiv der Hansestadt Lübeck

Nach dem schnellen Abriss im Frühjahr 1967, der ohne Einbeziehung der Denkmalpflege erfolgte, wurden die Fundamentquader auf dem Petri-Kirchhof gelagert, bis sie 1975 als „Sitzecke“ einige Meter verkehrsgerecht vom alten Standort entfernt wieder zusammengesetzt wurden. Aber nicht einmal im Sommer findet dieser auf der zu großen Freifläche verloren wirkende Platz Zuspruch, denn es ist fast immer zugig, und ein attraktives Straßenleben fehlt hier an der autogerechten Kreuzung. Selbst St. Marien wirkt hier eher abweisend. Noch einmal gab es 2006 den Versuch, das durch „städtebauliche, verkehrliche und funktionale Mängel erheblich beeinträchtigt(e)“ Umfeld der Marienkirche neu zu gestalten. Erneut gab es einen Architektenwettbewerb, aber wie schon 1965 blieb auch dieser Wettbewerb ohne Folgen. Mit der jetzt abgeschlossenen Sanierung des Marienwerkhauses benötigt die Mariengemeinde auch künftig kein neues Gemeindezentrum mehr, wie es 2006 geplant war.

Sollte es jemals noch einen weiteren Wettbewerb geben, könnte dann vielleicht ein noch nicht vorhandenes Welterbe-Zentrum zum Ausgangspunkt für die Planung eines „Maßstabsgebäudes“ zu Füßen von St. Marien werden – 50 Jahre nach dem Abriss der Kapelle. Dass ein besonderes Augenmerk der Lübecker Politik und der Bauverwaltung allerdings auf der oberen Mengstraße liegt, auf ihrer Gestaltung und Nutzung, kann man nicht feststellen. Ansonsten hätten sie beim Neubau des gewaltigen Parkhauses im Wehdehof auch eine Lösung dafür gefunden, die wenigen privaten Parkplätze und die Zuwegung für die Feuerwehr zu verlegen, die jetzt weiterhin das historische Gesamtbild belastet. Die Parkplätze in das Parkhaus – und wie viele Altstadtblöcke kommen ohne Feuerwehrzufahrt aus? Das beides hätten Stadtspitze und Bauverwaltung nur planen, verhandeln und durchsetzen müssen. Aber nein, man habe nicht anders gekonnt. Nun wird dafür auf Jahrzehnte die obere Mengstraße mit dem Welterbe St. Marien und dem bald weiter wachsenden kulturellen Hotspot Buddenbrookhaus vom Verkehr belastet bleiben – trotz der vorhandenen großzügigeren Parkhauszufahrt im Fünfhausen. Es ist nicht zu begreifen, aber nachher war natürlich wie immer niemand dafür verantwortlich. Deshalb sei es hier vorab festgehalten: Die bleibende Zufahrt wird ein Erbe der Ära Saxe/Boden.

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