Die Jahre 1965 bis 1975
Lübeck auf dem Wege zur Weltkulturerbe-Stadt

Das Interesse an Bauzeugnissen im Wohnungsbaubereich war in Lübeck sehr schwach ausgeprägt. Bewohner und Stadtobere sahen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Rückständigkeit des Stadtstaates.

Nach der Befreiung von der Umklammerung durch Dänemark und die Einbindung in das Deutsche Reich 1871 setzte man auf technische, wirtschaftliche und bauliche Modernisierung. Zwischen 1871 und 1914 sind dann mehr historische Bauten weggerissen worden als durch Bomben im Zweiten Weltkrieg oder durch die neuen Bebauungen nach 1948 zerstört wurden. Schon seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es zwar eine kleine Gruppe von engagierten „Altertumskundlern“, später dann auch von politisierten „Heimatschützern“, die sich aber immer nur schwer Gehör verschaffen konnten gegen den Hauptstrom der Modernisierer. Dass nach 1945 überhaupt Altbausubstanz im Innenstadtbereich in größerem Umfang stehen blieb, ist in der wirtschaftlichen Armut der Stadt in Zonenrandlage begründet.

Ein Umdenken setzte ganz allmählich Mitte der 1960er Jahre ein. So lud die Gemeinnützige 1965 Jobst Siedler zum Vortrag über sein Buch „Die gemordete Stadt“ ein. Zur selben Zeit veröffentlichten Margarete und Alexander Mitscherlich ihre Thesen über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“. Einen ersten Gipfelpunkt mit praktischen Auswirkungen für die gesamte Folgezeit der Lübecker Stadtentwicklung bis heute erreichte die Debatte 1972. Auf Initiative der Lübecker Nachrichten (Verleger Charles Coleman jr.) der Gemeinnützigen (federführend Dr. Rolf Sander) und der Hansestadt unter Bürgermeister Werner Kock (SPD) fand das Symposium „Rettet Lübeck“ statt. Hauptreferent der Tagung in der Gemeinnützigen war Prof. Dr. Werner Bornheim genannt Schilling aus Mainz, Vorsitzender der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland.

Nach einem Stadtrundgang fasste er seine Eindrücke dahingehend zusammen, die Stadt müsse sich das Ziel setzen, den gesamten Bestand an alter Bausubstanz dieser ehemaligen mittelalterlichen Großstadt zu bewahren, zu sanieren und neuen Nutzungen zuzuführen. Die Initiatoren der „Schwurgemeinschaft“ von 1972, Lübecker Nachrichten, „Stadt“ und „Gemeinnützige“, waren sich vom ersten Tag an einig, dass der vermutlich sehr teure Erhalt dieses besonderen Kulturgutes sich zukünftig auch als gut investiertes Kapital bezahlt machen müsste.

Bis zum Jahr 1975, als die „Bürgerinitiative Rettet Lübeck (BIRL)“ gegründet wurde, unter andrem von dem unvergesslich liebenswürdigen, diplomatisch klugen, in der Sache sturen Hans-Peter Stricker, hatte sich bereits viel getan. Schon während des Symposiums im Februar 1972 präsentierte eine Fotoausstellung im Rathaus 100 Bilder der verwahrlosten und verfallenden Altstadt. Die Schau, die der gemeinnützige Dr. Rolf Sander kuratierte, fand in wenigen Wochen mehr als 10.000 Besucher und wanderte anschließend durch die Republik.

Sehr aktiv wurde nach der Tagung das St. Annenmuseum. Der Europarat hatte das Jahr 1975 zum „Europäischen Denkmalschutzjahr“ ausgerufen. Der Flensburger Michael Brix, ein frisch promovierter Kunsthistoriker, konzipierte und kuratierte die Ausstellung „Lübeck. Die Altstadt als Denkmal“. Die Museumsmitarbeiter Wulf Schadendorf, Max Hasse, Björn Kommer und der frei arbeitende Gustav Lindtke entwickelten für das Denkmalschutzjahr gleich mehrere ergänzende Ausstellungen, die Lübecks städtebauliche Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert auch in Zusammenhang brachten mit Thomas Manns Roman "Buddenbrooks" von 1901. So wurde es möglich, Synergien aus der Verbindung von Denkmalschutzjahr und der Festwoche zum 100. Geburtstag Thomas Manns im Juni 1975 zu erzeugen.

Mit dem Einsetzen der Sanierungswelle von Altbauten ab 1972 gab es stark voneinander abweichende Konzepte, wie zu verfahren wäre. In der unteren Fleischhauerstraße blieben beispielsweise von einem halben Dutzend intakter Giebelhäuser nur die Fassaden stehen, dahinter entstand ein einziger zusammenhängender Neubau. Der von Höveln-Gang in der Wahmstraße behielt seinen Baukörper, wurde aber im Inneren komplett „entkernt“.

Das erste große Sanierungsprojekt mit architektonisch neuem Denkmalpflegeansatz war die Einrichtung der Musikhochschule im sanierungsbedürftigen Altstadtquartier Obertrave/Große Petersgrube/Kleine Kiesau/Depenau ab 1975. Hier wurde um jede zu erhaltende Wand oder Decke, jedes Fenster, jedes Paneel, jede Treppe gerungen. Das Ergebnis blieb umstritten, es kam zu großen Gewinnen und großen Verlusten an überlieferter Bausubstanz. Eine wichtige Botschaft für die Zukunft blieb: Es geht: Neue Nutzung kann sich im Alten funktional etablieren, altes Kulturgut im Neuen einen respektablen Platz finden.

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Kommentare  

# RE: Die Jahre 1965 bis 1975: Lübeck auf dem Wege zur Weltkulturerbe-StadtM. Finke (22.03.2017, 12:50)
Da liefert uns Kollege Dr. Eickhölter eine schönes Beispiel für „Nachkarten“ (vergl. meinen Beitrag zum Thema). Es ist eine Tatsache, dass die gutbürgerlich-freundliche „Gemeinnützige“ nach ihrem ausgezeichneten und allseits gewürdigten Engagement pro Altstadt in den frühen 1970er Jahren sich zur Ruhe setzte und in den Folgejahren in Sachen Denkmalschutz und Sanierung nicht nur sanft schlief, sondern auch kontraproduktiv agierte, wenn es um die eigenen Kartoffeln ging. Ein Thema, dem Dr. Eickhölter gern einmal nachgehen darf. – Stattdessen sollen wir wohl lernen, dass es der stets wehende Geist der „Gemeinnützigen“ war, der den „Welterbe-Pokal“ vor 30 Jahren nach Lübeck brachte. Typisch dafür die Ein-Reihung des BIRL-Mitbegründers Hans-Peter Stricker in die Liste des „Gemeinnützigen“-mainstreams. Was Stricker selbst von der Gemeinützigen hielt, muss ich hier anstandshalber verschweigen.

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