Titelfoto: Prof. Dr. Gerhard Vinken

Gerhard Vinken analysierte Lübecks „unstillbaren Hunger nach dem Echten“
Welche Sehnsüchte befriedigt das Modell „Gründungsviertel“?

Großes Finale beim „Stadtdiskurs“ der Gemeinnützigen: Freie Plätze gab es am 20. Januar im Großen Saal keine mehr. Bauprojekte auf der „Stadtinsel“, der „starken Mitte“, finden immer ein großes, aufmerksames Publikum. Die Anteilnahme der Bewohnerschaft an den Entwicklungen in jenem kleinen Stadtraum, der nicht mehr als ein Prozent der Stadtfläche ausmacht, ist überproportional groß. Entsprechend uneinheitlich ist die Zusammensetzung des Publikums. Wer genau hinschaut, bemerkt aber an Abenden wie diesem, dass es Freunde der „Altstadt“ sind, die zusammenkommen, keine Vertreter der „City“.

Die Insel ist Ort einer geteilten Stadt, durchzogen von Demarkationslinien, orientiert an den Grenzen des Weltkulturerbes. Wo „City“ und „Altstadt“ aufeinanderprallen, aber nicht nur dort, bieten sich dem Flaneur baukulturelle Konfrontationen in nicht geringem Umfang: Reibungen, moderne Urbanität. Derzeit herrscht eine Art Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Lagern und das ganz besondere Ereignis des Jahrzehnts ist das Projekt „Gründungsviertel“: Altstadtfreunde dürfen auf dem Territorium der „City“ entscheidend mitreden.

Der Vortrag

Gerhard Vinken, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bamberg, hatte sich vorgenommen, in seinem Vortrag Lübeck mit Vergleichen zur Entwicklung anderer Städte seit 1945 zu konfrontieren, und spitzte seine Themenstellung auf die These zu, die jetzt bevorstehende Verwirklichung des Projektes „Gründungsviertel“ befände sich in bester Gesellschaft mit andernorts vorzufindenden gesellschaftlichen Sehnsüchten nach „Geborgenheitsankern“ in der Vergangenheit. Vinken argumentierte nachvollziehbar und durchsichtig, er vermied den exklusiven Fachjargon der Architekten, Stadtplaner, Kunsthistoriker und Soziologen, die ein uneinheitliches Publikum mal unbewusst, mal gezielt in die Rolle des Patienten versetzen, an dessen Bett der Oberarzt mit seinen Assistenten sich ungestört über das bevorstehende Siechtum des Patienten austauschen kann, ohne durch dessen Zwischenfragen unnötig gestört zu werden.

Herr Vinken wollte von möglichst vielen verstanden werden und ermöglichte somit viele Fragen und intensive Diskussionen, die vor ihm nur wenige Vortragende im Stadtdiskurs für sich verbuchen konnten. Und noch etwas zeichnete diesen Abend aus: Der Vortragende, im Ton gleichbleibend ruhig wie ein Therapeut bei einer kritischen Intervention, ließ sich von schärfsten Einwänden und rhetorisch aufgeputzten Kurzdarbietungen nicht von seinem Hauptgedanken abbringen, im Gegenteil, er konterte und legte nach. Nach seinem Urteil zeigt sich seit den späten 1980er Jahren eine inzwischen massiv gewordene gesellschaftliche Sehnsucht nach Geborgenheit, Übersichtlichkeit und Ordnung, dem neues Bauen in ehemaligen oder fragmentarisch erhaltenen historischen Stadtkernen Ausdruck verleiht. Man stütze sich auf formalisierte Vergangenheitszeichen, die argumentativ in den Status von „Echtheitsankern“ aufrückten, die diskursiv nicht in Frage gestellt werden dürften. An den baulichen Oberflächen werde geschickt hantiert mit mal mehr, mal weniger deutlich historisierenden Formelementen, unterirdisch aber sei der jeweils neue Baukomplex mit Parkhäusern ausgestattet, denn im Inneren entstünde nur der vertraute Nutzungsmix aus Wohnungen, Büros und Verkaufsräumen. Auch Fragmente, kleine Überreste historischer Bauten (= Spolien) würden als „Gütesiegel“ ins Ensemble eingepasst. 

Vinken klassifizierte die trübe Mischung der Elemente als „postmodernen Heimatschutz“ und gab seinem Publikum abschließend die Frage mit auf den Weg: „Warum wollen Sie in dieser Stadt, in der so viel an originalem Alten erhalten und denkmalpflegerisch erneuert ist, ein ganzes Stadtquartier neu bauen, das sich formal aus dem Überlieferten bedient, aber in Gefahr ist, mit dem real Alten verwechselt zu werden?“ Seine Vergleiche deuteten an, wohin die Reise im Extremfall gehen kann: Die Stadtmarke Hildesheims definieren nicht mehr die romanischen Bauten, sondern ein 1986 rekonstruiertes Haus. In Frankfurt lassen sich Touristen nicht mehr vor dem „Römer“ fotografieren, sondern vor einer Fachwerkhausattrappe gegenüber.

„Lübecker Fragen“

Der erste der im Stadtdiskurs üblichen drei Fragesteller war Architekt Ingo Siegmund, vor kurzem erst geehrt für seine Baufibel für Bauherrn und Architekten im „Gründungsviertel“. Er sei entsetzt: „Sie haben für den Vortrag aus dem Fassadenwettbewerb nur solche Entwürfe ausgesucht, die stark historisieren. Sie sind in der Tat rückwärtsgewandt und stammen durchweg von jungen Architekten.“ Und weiter: „Für uns verbürgt die Kleinteiligkeit der Grundstücksparzellen auf dem Areal ‚Urbanität’.“ Vinken konterte: „Das Vergangenheitszeichen ist eine Monstrosität, ein Klon, der nicht befragt werden darf.“ Auch seien die Bauvorgaben derart restriktiv, dass Vielfalt und Unterschiedlichkeit der zukünftigen Nachbarschaften nicht entstehen könnten.

Frau Dr. Irmgard Hunecke, Abteilungsleiterin der Denkmalpflege, empfand den Vergleich zwischen Frankfurt und Lübeck als unpassend: „Dort wurde inmitten einer modernen Stadt eine Traditionsinsel geschaffen.“ Lübeck sei eine fast geschlossene Altstadt, hier werde eine Lücke gefüllt. Sie formulierte eine Vision: „Wenn die zukünftigen Besucher des Quartiers die Straßen durchschreiten, werden sie auf der einen Straßenseite historisch Altes finden und auf der anderen Seite die Neubauten.“ Und ergänzte: „Ich bin sicher, dass zumindest die Lübecker zwischen Altem und Neuem unterscheiden werden.“ Auch sie betonte die Bedeutung der Parzellen. Man habe sie archäologisch ergraben und daraus für die ca. 40 Eigentumseinheiten die Grundstücksgrenzen abgeleitet.

Bauhistoriker Dr. Michael Scheftel mochte sich in der Kürze der Zeit auf keine Darlegung historischer Zusammenhänge einlassen. Sein Statement zum Gründungsviertel fiel kurz aus: „Der Stadt gehört das gesamte Areal, die Stadt ist arm und durch die Parzellierung lässt sich Geld verdienen. Hätte das Bauen sich noch um einige Jahre mehr verzögert, wären vielleicht sogar die jetzt abgerissenen Schulbauten unter Denkmalschutz gestellt worden.“ (Auf Nachfrage nach dem Vortrag ergänzte Scheftel: „Die ergrabenen Steinkeller, die jetzt als Parzellengrenzen genutzt werden sollen, sind selbst der Endpunkt einer im Vergleich zur Gesamtstadt beschleunigten Entwicklung von 150 Jahren zwischen 1160 und 1300. Die ersten und ältesten Parzellen im ehemaligen Kaufleute-Quartier waren Großgrundstücke. Sie wurden von den Archäologen ebenfalls nachgewiesen.“)

Publikumsäußerungen

Jörg Sellerbeck, Sprecher der „Bürgerinitiative Rettet Lübeck“, stimmte im offenen Teil der Diskussion ein Lob auf „die Parzelle“ an. Parzellenübergreifende Neubauten der Nachkriegsmoderne hätten sich nicht bewährt. Die kleinteilige Parzelle, prägend im alten Stadtraum, hätte eine über 700 Jahre währende positive Entwicklung garantiert. Die geplanten Neubauten hätten Chancen auf eine ähnlich lange Zukunft. Herr Vinken gab zu bedenken: „Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was für ein Zeichen Lübeck damit in die Baukulturlandschaft hinaus sendet?“

Lübsche Urbanität: Freiheitssehnsucht trifft Denkmalpflege (Foto: Michael Brix)Lübsche Urbanität: Freiheitssehnsucht trifft Denkmalpflege (Foto: Michael Brix)

Lübsche Urbanität: Freiheitssehnsucht trifft Denkmalpflege (Foto: Michael Brix)

Einen bemerkenswerten Auftritt hatte Altbischof Kohlwaage. Als das letzte Foto gezeigt wurde, links, schwungvoll und breit ausladend das Nachkriegs-Parkhaus Schmiedestraße, rechts, wie geschrumpft, zwei kleine historische Giebelhäuser hinter St. Petri, und als Gerhard Vinken dann am Bild verdeutlichte: „Heute würden Denkmalpfleger unserer Tage das Parkhaus erhalten wollen und Investoren wünschen sich historisierende Häuser“, da erhob der Kirchenmann seine Stimme: „Das Gebäude von C&A in der Mühlenstraße und das Parkhaus in der Schmiedestraße sind Bausünden.“ Er würde gern erfahren wollen, was der Herr Pastor während seiner Dienstjahre für die Altstadterhaltung getan habe, fragte Vinken spitz zurück, gab dann aber auch zu bedenken: „Bei Christen ist das Wort Sünde häufig in Gebrauch. Haben Sie daran gedacht, welche Sehnsüchte nach Freiheit, Beweglichkeit, Grenzenlosigkeit, nach Reiselust und nach privatem Wohlstand mit diesem Parkhaus der 1960er Jahre verbunden sind? Waren das auch Sünden?“

Und doch ließ sich Gerhard Vinken von Bischof Kohlwaage ein einziges Mal aus der Ruhe bringen. Als dieser ihn aufforderte, gelungene Alternativen zum geplanten Gründungsviertel zu benennen, ließ er sich aufs Glatteis führen, benannte vage Holland und Rotterdam und wich damit von seinem Konzept ab. Er wollte ja eigentlich nicht zeigen, wie man es besser macht, sondern verdeutlichen, was am Gründungsviertel an Sehnsüchten sichtbar wird.

Beobachtungen und Kritik

Niemand verriet Herrn Vinken an diesem denkwürdigen Abend, dass die viel beschworenen, jüngst ergrabenen Groß- und Kleinparzellen nach sorgfältiger Dokumentation in Zeichnung, Bild und Text weggebaggert wurden zugunsten von Parkhäusern für die zukünftigen Häusle-Gründer. Niemand wies auch darauf hin, dass es im alten Lübeck auf der Insel immer kleine und große Parzellen gab, man denke etwa an die Patrizierviertel oder das Domquartier. (Wie gerne hätten schon vor 300 Jahren zukunftsoffene Unternehmer die immer stärker lahmende Wirtschaft auf neue Bahnen gelenkt, was aber die traditionsbewussten Korporationen der Kaufleute und Handwerker, die auf kleinen Parzellen kleinen Handel betrieben und für die Nahversorgung werkelten, durch Gemeinschaftlichkeit zu behindern wussten.)

Es blieb auch unerwähnt, dass seit drei Jahren im Gespräch ist, im „Gründungsviertel“ ein modernes Haus mit einer „originalen“, „ehrlichen“ (= heiligen!) Fassade zu verzieren, die aus etlichen Backsteinen der Zeit um 1400 bestehen würde und aus sehr viel Neumaterial. Das alte Steinmaterial steckt in der Fassade des Hauses Mengstraße 6, sie ist ein Produkt der „Wiederaufbauzeit“ nach 1953. Mengstraße 6 wird in diesem Zusammenhang als „Misshandlung“ des Originals interpretiert. Die Fassade hatte ihre erste Heimat in der Fischstraße 19. Der „einhüftige“ Giebel von Fischstraße 19 − es gab von seiner Sorte, Ikone des NS-Heimatschutzes, nur 11 in Lübeck − soll Zeuge des einzigen originären Beitrags der Stadt zur mittelalterlichen Baukultur im Norden sein („Gütezeichen“). Hinweise dieser Art hätten die Thesen von Gerhard Vinken bekräftigt.

Was an diesem Abend nicht deutlich wurde, ist die Eigenlogik des lokalen Stadtbaudiskurses. Lübecks Insel, die noch immer als die Gesamtstadt optisch wahrnehmbar ist, die sie von 1300 bis 1864 war, ist ein Ort, an dem seit mehr als 150 Jahren bauliche Modernitätskämpfe erster Güte ausgetragen werden und als diese in den Stadtkörper eingeschrieben sind. Nicht als unsichtbares Wissen der Archive, sondern als physische Präsenz. Die Brutalität, mit der beispielsweise das 2003 errichtete, innen weitgehend hohle Haerdercenter die angrenzenden Bauten in der Wahmstraße beim Blick vom Kohlmarkt Richtung Rehderbrücke zu Favelas degradiert, ist schon ein Genusshappen für jeden Freund optischer Reibungen zwischen wirklich Alt und wirklich Neu, Urbanität vom Feinsten, natürlich in altstädtischen Dimensionen. Wo sonst ist das in Deutschland zu haben? Das Gründungsviertel, so wie es kommen wird, markiert in der geschichtlichen Logik der lokalen Baukultur die erste Chance, großflächig mit modernen Mitteln Einheitlichkeit und Maßstäblichkeit zu verwirklichen.

Ausblick

Hans Stimmann, Lübecks Bausenator von 1986 bis 1991, hat bei seinem Vortrag im Stadtdiskurs (siehe Lüb. Blätter, Heft 21, S. 371) die Frage aufgeworfen, warum das Gründungsviertel nicht vom Wort Gründung angegangen worden ist. Eine neue Stadtgründung, was könnte damit gemeint sein? Vielleicht eine Technische Universität oder ein Technikzentrum, wie das in der Seelandstraße im Stadtteil Kücknitz? Lübecks Stadtzentrum ist geprägt durch Wohnen, durch (zunehmend touristisch orientierten) Handel, und durch kulturelle Kommunikation, nicht aber durch produzierendes Gewerbe oder durch Wissenschaft. Eine Stadtgründung bahnt sich im Gründungsviertel nicht an.

Es ist ein für dieses Mal behutsameres Experiment, die alte Stadtinsel weiter zu bebauen. Lübecks Ruf, eine Stadt mit Lebensqualität zu sein, in der man gerne wohnt, weil hier alles, was städtische Urbanität zu bieten hat, fußläufig in der Nähe ist, wird gestärkt werden. Es ist jedoch an der Zeit, sich anschließend einer zweiten Hinterlassenschaft der Wiederaufbauzeit nach dem 2. Weltkrieg zuzuwenden, dem Bereich Wahmstraße-Krähenstraße im Aegidien-Quartier. Wer sich an diese Aufgabe herantraut, wird sehr schnell zu spüren bekommen, dass er sich mit einer Kernfrage innenstädtischer Zukunft beschäftigt, und kann sicher sein, dass es ungemütlich werden wird im Verhältnis zwischen „Altstadt“ und „City“.

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Titelfoto: Prof. Dr. Gerhard Vinken

 


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