Weihnachtsfreuden

„Mutter, komm doch bitte mal in die Küche“, ziemlich entnervt rief Anne Reimers nach ihrer Schwiegermutter Hilda.

Einerseits erfreut, dass ihre Anwesenheit erwünscht war, aber auch mit einem kleinen gedanklichen Seitenhieb der Art „Ohne mich klappt doch nicht alles nach Wunsch“, machte die rüstige Hilda Reimers sich auf den Weg vom ersten Stock nach unten in die Küche zu ihrer Schwiegertochter Anne. „Nett, Mutter, dass du gleich kommst. Ich weiß wirklich nicht, was ich morgen auf den Tisch bringen soll. Hubert meint, wir sollten die Tradition aufleben lassen und zum Fest Karpfen essen. Mir wäre es viel lieber, wenn wir zur Weihnachtsgans zurückkehren würden; bei uns zu Hause war das Fest ohne Gänsebraten undenkbar. Und dass wir wegen der Kinder immer noch Kartoffelsalat und Würstchen am Heiligenabend mampfen, muss ja auch nicht sein. Sie sind inzwischen in dem Alter, in dem sie essen können, was auf den Tisch kommt."

Ein wenig konsterniert blickte Hilda Reimers auf ihre Schwiegertochter. „Ich dachte, Anne, das Thema sei ausgestanden. Ich habe doch schon vor vierzehn Tagen bei Ludolf die Karpfen bestellt, das kann ich nicht rückgängig machen. Gänsebraten ist ja auch nicht zu verachten, aber Hubert hat mir gerade gestern gesagt, dass er sich auf Karpfen blau zum Fest sehr freut." Bis jetzt hatten die Kinder Gabi und Dennis sich mit dem Ausstechen des Plätzchenteigs beschäftigt und sich ab und zu nur vielsagend angeschaut. Aber nun wurde die Sache interessant, dass es wohl erforderlich erschien, sich einzumischen. "Warum essen wir denn nicht wieder Würstchen mit Kartoffelsalat“, quengelte der kleine Dennis. „Ja, das finde ich auch“, gab Gabi ihren Senf dazu. „Und wir meinen, ihr seid jetzt groß genug, um Fisch zu essen“, erwiderte energisch Oma Hilda.

Die Kinder mühten sich, die Erwachsenen von ihrem Kartoffelsalat-Plan zu überzeugen, da tischte Anne Reimers den Kompromiss auf: „Damit ihr seht, dass ich nicht halsstarrig bin, schlage ich vor, beides, Gans und Karpfen auf den Tisch zu bringen. Eine Gans bekomme ich immer noch bei Bauer Wiese.“ Erstaunt schaute Hilda Reimers ihre Schwiegertochter an: „Diese Arbeit willst du dir am Heiligabend machen? Na gut, Hubert und ich essen auf jeden Fall Karpfen. Du und die Kinder können dann Gans essen.“ Die Kinder wollten erneut maulen, wurden jedoch von der Mutter in die Schranken verwiesen.

Am 24. Dezember war Anne Reimers sehr rechtzeitig aufgestanden. Ihr lag das ganze Weihnachtsmenü schwer auf dem Magen. Inzwischen war es 15 Uhr, die Gans nach den Vorgaben ihrer Mutter gefüllt und brutzelte leicht vor sich hin.

„Hm, da kriegt man ja richtig Appetit“, mit diesen Worten betrat ihr Mann Hubert die Küche. Anne wollte das Weihnachtsfest friedvoll begehen und verkniff sich deshalb eine Antwort. Schade, dass ihre jüngere Schwester Sabine in diesem Jahr nicht – wie sonst üblich – zu Gast war. Aber sie hatte einen neuen Freund und wollte mit ihm und einem befreundeten Paar sich selbst in der Hausfrauenrolle beweisen.

Gegen 17 Uhr läutete das Telefon. „Wer ist das denn jetzt noch?“, griff Anne zum Telefonhörer. Überrascht hörte Hubert, wie seine Frau sagte: "Nein, nein, beruhige dich, Sabine, wir kommen zu dir.“ „Was soll das denn?“, Hubert verstand die Welt nicht mehr. „Sabines Freund ist nach einem großen Zoff einfach gegangen; sie ist total am Boden zerstört, wir müssen zu ihr.“ „Wir auch?", fragten Dennis und Gabi. „Ja, kommt mit, wir können euch ja nicht allein lassen“, forderte die Mutter die Kinder auf.

„Was gibt es denn bei Tante Sabine zu essen?", das war Gabi sehr wichtig. „Kartoffelsalat und Würstchen“, wusste die Mutter. „Au, cool!“, jubelten Gabi und Dennis, während die Erwachsenen Karpfen und Gänsebraten im Stich ließen und bereits in die Mäntel schlüpften.

Foto: Wikipedia

Helga Rottmann
Helga Rottmann
Immer wieder musste der Großvater dem Kind "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh'n" aus "Mignon" vorsingen. Das zielte auf ein Gesangsstudium. Dennoch der Wechsel zur schreibenden Zunft. 15 Jahre Kultur-Redakteurin bei einem Lübecker Blatt. Schreibt seit 2012 für "unser Lübeck". Schwerpunktthemen: Oper, Operette, Musical, SHMF.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.