Krzysztof Urbański, 2016, Foto: (c) Olaf Malzahn

Ein Programm des Besonderen
Erstes NDR-Konzert der neuen Saison

Es war ein großartig konzipierter, zugleich musikalisch beeindruckender Abend, den das NDR Elbphilharmonie Orchester mit seinem ersten Konzert in dieser Saison bot (16. September 2017). Abwechslungsreich und dennoch in sich geschlossen, präsentierte sein Erster Gastdirigent Krzysztof Urbański ausschließlich Werke russischer Sinfonik, Werke von Komponisten, die alle Größen der Musikgeschichte geworden sind.

Dass alle in ihrer Jugend einem prägenden Ort verbunden waren, ist dabei mehr als ein äußerer Aspekt. Es war Sankt Petersburg oder Petrograd oder Leningrad, deren Namensänderung gleichzeitig Ausdruck eines radikalen politischen Umbruchs wurde. Alle drei aber litten darunter, wurden in ihrem Lebensweg und Lebensplan sehr unterschiedlich davon betroffen. Dennoch klingt bei ihnen immer wieder das Russische durch, die besondere Vorliebe für Rhythmik, für die Klangfarbe und für ihre musikalische Verwurzelung in der russischen Volksmusik.

Die Chronologie der Geburtsdaten bestimmte auch die Reihenfolge im Programm. Nur 24 Jahre trennen sie. Der Älteste war Igor Strawinsky, 1882 geboren und 1971 gestorben, neun Jahre jünger Sergej Prokofjew, der bis 1953 lebte, jüngster dieser Trias dann Dmitrij Schostakowitsch (1906 bis 1975). Der Beginn mit Strawinskys kurzem „Scherzo à la Russe“ mag wie eine vorweggenommene Zugabe wirken. Der kecke Zuschnitt dieses Scherzos für Orchester, einer Form, die in Russland eine eigene Tradition hat, führt aber zurück in des Komponisten eigene, russisch geprägte Periode der 20er Jahre. Auch wenn diese Orchesterversion erst 1943 entstand, wurde sie doch 20 Jahre früher konzipiert und ist „Petruschka“ oder „Die Geschichte vom Soldaten“, zentralen Werken der Aufbruchszeit in die Moderne, unmittelbar verbunden. Strawinsky hat, obwohl er früh seine Heimat nach Westen verließ, bei aller Radikalität seiner Musiksprache nie die russische Idiomatik aufgegeben. So war dieses vom Orchester glänzend interpretierte Werk eine Art Hinführung zum Gemeinsamen aller drei Komponisten.

Das zweite Klavierkonzert in g-Moll, das Opus 16 von Prokofjew, wurde 1913, also im gleichen Jahr uraufgeführt, in dem Strawinsky mit „Sacre du Printemps“ den größten Musikskandal aller Zeiten verursachte. Auch Prokofjews virtuose Instrumentalkomposition, eine der schwersten dieses Genres, wurde von Publikum und Presse heftig abgelehnt. Seine hochgradige Virtuosität und harmonische Schärfe durch bi- bis polytonale Gestaltung, dann sein ungestümer Gestus, der in der Anna Valeryevna Vinnitskaya, Foto: (c) Esther HaaseAnna Valeryevna Vinnitskaya, Foto: (c) Esther HaaseRhythmik und in etlichen Wendungen Russisches zitiert, macht es auch heute noch aufregend neu und wird wegen der Anforderungen an den Solisten selten aufgeführt. Umso mehr erstaunte, wie Anna Valeryevna Vinnitskaya, 1983 am russischen Schwarzmeerrand geboren, jetzt in Hamburg als Professorin lebend, mit den pianistischen Eingebungen ihres Landsmanns umging. Er war selbst ein herausragender Pianist und schuf im ersten Satz ein klangvoll episches Gespinst mit Doppelgriffen links und dem Thema in Oktavgängen rechts, das dann in der Reprise in einer in der Klavierliteratur einmalig komplexen und langen Kadenz genutzt wird. Die rasante Motorik des „Scherzos“, dann das eher Pathetische des „Intermezzo“ genannten dritten Satzes mit seiner immensen dynamischen Steigerung sowie deutlich hörbarer Anspielung auf Mussorgsky und dann das Allegro tempestoso des Finalsatzes zu meistern, stellt den Virtuosen vor immer neue, unvorstellbare Aufgaben. Wie die Pianistin sie löste, machte immer wieder Staunen. Reibungslos setzte sie sich gegen Klangballungen des Orchesters durch und hatte dennoch einen klaren, auch sensiblen Anschlag, staunenswert auch im mühelosen Wechsel von kraftvollen Fortepassagen zu zarten Klangbildungen.

Hatte schon Prokofjew unter Stalin gelitten, bestimmte das am stärksten das Leben von Schostakowitsch. Seine Sinfonie Nr. 5 in d-Moll ist das Werk, in dem er sich 1937 am stärksten mit dem vom Regime geforderten Stil auseinandersetzt. Das Aufbegehren gegen eine als Drangsalierung empfundene Kunstauffassung führte zu dem Untertitel „Das Werden einer Persönlichkeit“. So ist das Werk eine Art Psychogramm, ist in Töne gesetzte Verzweiflung an den Theoremen der Parteiführung und muss unter dieser Voraussetzung gehört werden. Gewaltsame Paukenattacken und Märsche, auch Leeres wie rein konstruktiv verarbeitetes belangloses Material etwa im vierten Satz weisen dahin. Das ungewöhnlich zarte und nachdenkliche Largo als dritter Satz lässt die Spannung ahnen, unter der der damals junge Familienvater existieren musste.

In begeisternder Weise gestaltete das Orchester die kontrastiven Partituren, die Urbański fordernd interpretierte. Ungemein genau schattierte er Dynamisches, ließ Instrumentalgruppen in Farben schwelgen, band Solopartien ein – eine Wiedergabe von seltener Feinheit. Ungewöhnlich langer Applaus dankte dafür.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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