Stefan Gwildis liest den "Schimmelreiter", Foto: (c) Olaf Malzahn

Stefan Gwildis in der Kulturwerft Gollan
„Der Schimmelreiter“ – Von der Liebe und der Leidenschaft

Im Norden wird es wieder kühler und die ersten Herbststürme machen sich auf den Weg über das flache Land. Hierzu wurden vermutlich unzählige Geschichten und Bücher verfasst. Eines der bekanntesten ist sicher Theodor Storms „Der Schimmelreiter“.

Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers in diesem Jahr erfüllte sich der Hamburger Sänger Stefan Gwildis einen Traum und las das Buch in einer für ihn von Sonja Valentin gekürzten Fassung. Diese präsentierte er auf seiner Lesetour durch Norddeutschland mit Station in Lübeck am 2. Oktober.

Um 20 Uhr begann die abenteuerliche Reise an die Küste Norddeutschlands. Man wurde umgehend von der emotionalen Handlung gepackt. Stefan Gwildis hauchte mit sichtbarer Begeisterung für die Geschichte den Charakteren mit seiner mal rauchigen, mal weichen und zurückhaltenden Stimme Individualität ein. Bewegte Szenen entwickelten sich im Kopf des Zuschauers: Der Schimmel schnaubte, Hauke Haiens Mantel flatterte im Wind auf und ab, als er auf seinem Pferd, dessen Gerippe kurz zuvor auf der Hallig Jeverssand liegend gesichtet wurde, auf dem Deich entlangritt. Des Teufels Pferd war zum Leben erwacht.

Die kurzen musikalischen Sequenzen, die die gelesenen Passagen unterbrachen, wurden von Hagen Kuhr (Cello) und Tobias Neumann (Piano) virtuos gestaltet. Mal schnell, mal langsam, dann wieder ruhig oder aufbrausend verstärkten die beiden Musiker damit die dramatischen Bilder, die vor dem inneren Auge entstanden. Die dezente, aber perfekt gesetzte Beleuchtung unterstrich die kühle Stimmung. Das auf der Bühne gespannte Netz begann im Wind zu flattern, der Kopf des Pferdes wurde nun im Hintergrund sichtbar. Eine unangenehme Kühle machte sich auf der Haut im letzten Kapitel breit. Im letzten Aufbäumen von Pferd und Reiter schien die zugespitzte, dichte Atmosphäre fast greifbar:

Der alte Deich bricht – ein Schrei Hauke Haiens, dann Stille. Er kann seine Familie und sich nicht vor den Fluten retten. Sein Bauwerk aber trotzt dem tosenden Meer. „Es wird schon halten.“ Man kann nicht daran vorbei, mit den Menschen mitzufühlen. Obwohl die Geschichte im 19. Jahrhundert von Storm geschrieben wurde, sind die emotional geprägten Themen auch heute aktuell: Ein junger Mann, Querdenker und Visonär, kämpft für und um seine Ideale. Er will seinen, DEN Deich bauen, der dem tosenden Sturm und der gewaltigen Flut trotzt – ein bisher in seiner Art nie da gewesenes Bauwerk. Entgegen allen Widersachern und Neidern kämpft er für sein Ziel und ist sich dabei der Liebe seiner Frau Elke gewiss. Dennoch ist er immer zerrissen zwischen seinen Gefühlen und Gedanken, ständig fürchtend, bei seiner Planung dieses ehrgeizigen Ziels nicht alle potenziellen Makel mit einkalkuliert zu haben.

Die Zuhörer ließen der Stille den Raum, den sie verdient hatte, eh sie begeistert applaudierten. Eingerahmt wurde das Programm mit den sehr passend gewählten Songs „Anker werfen“ und „Mein Meer“. Nordisch pur, einfach schön. Wer Gelegenheit und Zeit dazu hat, sollte sich einen der noch kommenden wunderbaren Abende unbedingt gönnen und sich auf diese alte neue Geschichte einlassen.

Sabine Vierus
Sabine Vierus
Gebürtige Lübeckerin (1971), seit 2016 die Landeshauptstadt Kiel als neue Heimat gewählt. Ausgeprägte Leidenschaft für Musik seit sie laufen kann. Das umfangreiche Musikwissen hat sie als Kauffrau über zwanzig Jahre im CD-Vertrieb an ihre Kunden weitergegeben. In der Freizeit oft mit der Kamera unterwegs; schreibt einen eigenen Blog. Schwerpunktthemen für "unser Lübeck": Musik- und Konzertrezensionen.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.