Über Kirchenlied und Kirchensang - Ein besonderes Thema im Reformationsjahr
Ada Kadelbach „Paul Gerhardt im Blauen Engel“

500 Jahre Reformation feiern die Protestanten in diesem Jahr. Zu Luthers bedeutsamen Neuerungen zählt, dass er im kirchlichen Ritual das lateinisch zelebrierte Ordinarium Missae durch das landessprachliche Lied ersetzte.

Es wurde zum wichtigen Vermittler biblischer Inhalte, gesungen von der Gemeinde, nicht mehr durch die quasi professionelle Schola. Die dafür geschaffenen Gesangbücher, oft sehr persönlicher Besitz der Gläubigen zum Gebrauch im Gottesdienst wie im Privaten, wurden aber häufig verändert. Zeitliche und lokale Auffassungen über Auswahl und Präsentation, auch Varianten bei Text und Melodie führten dazu. Die Gründe dafür zu erforschen, eröffnet vielfältige Einsichten.

Ein Buch von Ada Kadelbach, das sich diesem Thema widmet, wurde jetzt von ihr in einer Lesung im Buddenbrookhaus präsentiert. Es trägt den ungewöhnlichen Titel „Paul Gerhardt im Blauen Engel“ und ist mit 588 Seiten nicht nur äußerlich ein umfangreiches und gewichtiges Werk. Gedruckt ist es im Tübinger Verlag „Narr Francke Attempto“ als Band 26 der „Mainzer Hymnologischen Studien“ und mit 136 Abbildungen und 6 Farbbildern repräsentativ ausgestattet.

Biografisches

Dr. Ada KadelbachDr. Ada KadelbachDr. phil. Ada Kadelbach in Lübeck vorzustellen ist eigentlich überflüssig. Immerhin war sie hier langjährig, von 1991 bis zu ihrem Ruhestand 2003, Leiterin des Bereichs Kunst und Kultur und hat vielerlei Lubecensien verfasst. In Wien geboren studierte sie in Mainz, Bristol und Lawrence/Kansas die Fächer Musik und Englisch und unterrichtete in den 70er Jahren an dem Gymnasium auf Sylt. Von 1980 an leitete sie die Kreismusikschule in Husum, bevor sie 1985 als Referentin ins Kieler Kultusministerium wechselte. Zudem war sie von 1991-1999 Vizepräsidentin der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie und arbeitet seit vielen Jahren in Gesangbuchgremien auf landeskirchlicher und EKD-Ebene mit.

Ihr Fachgebiet, die Hymnologie oder die Lehre vom Kirchenlied, ist sehr vielgestaltig. Es bezieht Theologisches und Musikwissenschaftliches ein, erweitert das Themenfeld, wie Ada Kadelbachs Buch zeigt, durch literaturwissenschaftliche, historische und kultur- sowie kunstwissenschaftliche Studien. Das ist ein weites, anspruchsvolles Gebiet. Da macht der Titel „Paul Gerhardt im Blauen Engel“ nicht nur Lübecker stutzig. Er prangt in klaren weißen Lettern auf dem dunkelblauen Buchumschlag, darüber etwas zarter der Name der Verfasserin, links darunter ein Kupferstich aus dem Jahre 1717. Er zeigt den evangelischen Theologen Paul Gerhardt im Ornat. Daneben, weiß auf einem Notensatz seines Liedes „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ gedruckt, verrät ein Zusatz die Thematik: „und andere Beiträge zur interdisziplinären Kirchenlied- und Gesangbuchforschung“.

Ein etwas frivoler Titel

Paul GerhardtPaul GerhardtBereits der Umschlag tritt also dem Leser vielschichtig und geheimnisvoll entgegen. Dennoch wird der barocke Dichter geistlicher Lieder nicht mit „Gottes Gaben“ und „der schönen Gärten Zier“, sondern mit dem „Blauen Engel“ verbunden. Lübecker wissen, dass den Engel im Namen ein Etablissement trug, das in der Clemensstaße lag. Von 1852 (laut einer Aufstellung der Sittenpolizei ) bis 2007, mithin für eineinhalb Jahrhunderte, war sie die Rotlicht-Twiete (s. „Der Wagen“ 2008, 186ff). Realiter soll der Engel „weiß“ oder „golden“ gewesen sein, wurde womöglich von Heinrich Mann für seinen „Professor Unrat“ umgefärbt. Zudem kennt (M)man(n) durch den Film „Der blaue Engel“ die Lokalität, in der Marlene Dietrich die „Künstlerin Fröhlich“ verkörperte, die Attraktion des Hauses. In einer bizarren Romanszene spielt Paul Gerhardts Choral „Sollt ich meinem Gott nicht singen?“ dort eine Rolle, deren feinsinnige Deutung den Titel des Buches erklärt. Nicht nur Amüsantes oder Anekdotenhaftes wird aufgedeckt, mehr zu bewundern ist, was detailliertes Kennen der damals genutzten Gesangbuchdrucke und akribischer Vergleich textlicher und melodischer Varianten zutage fördert.

„Paul Gerhardt im Blauen Engel?“ Mit dieser Frage beginnt auch Ada Kadelbachs Vorwort. Es ist ihr bewusst, dass der Titel Aufmerksamkeit heischt. Sie will mit ihm auf dreierlei Aspekte hindeuten, „die phänomenale Rezeptionsgeschichte Paul Gerhardts, die weit über den kirchlichen Gebrauch hinausgehende kulturelle Bedeutung des Kirchenliedes sowie den merklichen Verlust des Kulturgutes »Kirchenlied« mit seinen Folgen für ein tieferes Textverständnis“ (S. IX). Gerade Letzteres koppelt sie in den Teilen vier bis sechs vor allem mit Literaturwissenschaft. Im vierten ist es der Blick auf die spezifische Gestaltungsweise, die „Akrostichon und Parodie“ anwendet. Im fünften, „Paul Gerhardt – ein Rezeptionsphänomen“ überschriebenen, stehen Dichter wie Matthias Claudius und die Mann-Brüder mit ihren Lübeck-Romanen im Zentrum sowie der 2006 verstorbene Robert Gernhardt, dem die Schlusszeile von Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“ bedeutsam wurde. Auch den Quellen für die spätromantischen Zeichnungen von Ludwig Richter spürt sie nach und sucht schließlich nach Gerhardts Spuren in skandinavischen Gesangbüchern. Der sechste und letzte Teil vor dem „Epilog“ mit zwei feinsinnig selbstironischen Texten geht von der Anfangsfrage in den „Buddenbrooks“ aus. „Was ist das?“ prüft die Auffassung von „Religion und Kirche bei Thomas Mann“.

Grafik von Ludwig RichterGrafik von Ludwig Richter

Vielseitig

Eigentlich ist das Buch mit seinen 27 Kapiteln ein Sammelband von vielen zwischen 1976 und 2016 zunächst getrennt bei Kongressen oder bei Symposien gehaltenen oder in diversen Fachorganen erschienenen Beiträgen. Häufig sind sie zudem inhaltlich an den jeweiligen Lebensort der Forscherin gebunden. So fußt der dritte Teil, der „Gesangbücher im Auswanderergepäck“ erfasst, auf Ergebnissen ihrer Staatsexamensarbeit über „Das deutsch-amerikanische evangelische Kirchenlied bis 1800“ und ihrer 1972 erschienenen Dissertation über „Die Hymnodie der Mennoniten in Nordamerika (1742-1860)“. In Nordfriesland beschäftigte sie „Das Husumer Hofgesangbuch, Schleswig 1676“. An ihrem jetzigen Wohnort hat sie sich verstärkt der hanseatischen Tradition gewidmet. Davon zeugt „Speculum Ævi. Kirchengesang in Lübeck als Spiegel der Zeiten“ (herausgegeben zusammen mit Arndt Schnoor). Dennoch ist ihr jetziges Buch mehr als eine bloße Anthologie oder ein Opus summum et magnum, weil das für diese Veröffentlichung Ausgewählte so zusammengeführt ist, dass sich ein durchstrukturiertes Ganzes ergibt. Der Leser wird in den sieben Abschnitten zwar im Wesentlichen chronologisch geführt, dennoch sind die Kapitel thematisch bestimmt.

Hermann BonnusHermann BonnusDer erste Abschnitt ist schlicht „Vorrede“ überschrieben, ein Begriff, der doppeldeutig genutzt wird, denn die Verfasserin entdeckt die Vorreden der Gesangbücher der Lutherzeit als Quelle dafür, wie die Reformation unter Luthers Einwirken das Singen im sakralen Zeremoniell neu bewertet. Dessen Drastik macht schmunzeln: Der Choral solle „mit hertz vnd verstand“ gesungen werden, nicht wie „das wüste, wilde Eselgeschrey“ klingen (S. 13ff). Im zweiten Abschnitt dann vereinigt sie „Norddeutsche Regionalstudien von der Reformation bis zur Restauration“. Zunächst verengt sie den Blick auf die freien Hansestädte des Nordens, auf Lübeck und Hamburg, und entdeckt bei Johannes Bugenhagen und bei seinem Nachfolger Hermann Bonnus, der 1532 mit 28 Jahren „Lübecks erster amtlich ernannter evangelischer Kirchenführer“ (S. 22) wurde, über Jahrhunderte dauerndes Nachwirken ihrer Ideen. Neben Hamburg und Lübeck liefern Ada Kadelbach die Residenzstädte Husum und Ludwigslust eine Fülle von Material, darunter ein kulturgeschichtlich amüsantes Kapitel zum geistlichen und weltlichen Husumer Hofleben. Schließlich endet dieser umfangreichste Teil mit einem Blick auf „Matthias Claudius und »seine« Gesangbücher“ sowie auf den ebenfalls in Hamburg verstorbenen Carl Philipp Emanuel Bach „in Choralbüchern seiner Zeit“.

Fazit

Ada Kadelbach zitiert auf Seite 375 Johann Gottfried Herder, den Aufklärer. Er sammelte Volkslieder jeder Art, auch religiöse und nannte 1779 das Gesangbuch die „Bibel des Volkes“. Nichts kann besser umschreiben, welche Bedeutung diesen Sammlungen zukommt, und das von Anbeginn der Reformation. Die bildkräftigen Lieder Martin Luthers werden bis heute gesungen. Er wirkte wiederum auf andere, einer der bedeutendsten darunter Paul Gerhardt. Selbst das katholische Gesangbuch „Gotteslob“ enthält sechs seiner Schöpfungen, 26 das heute gültige evangelische Gegenstück.

Wie Gerhardt wirkte und was er bewirkte, davon kündet dieses Buch auf äußerst verlässliche Art. Davon zeugen nicht zuletzt die genauen Anmerkungen im Text und ein 70 Seiten umfassender Anhang mit Angaben über die immense Menge benutzter Quellen, über Literatur und Herkunft der Bilder. Ein Personenregister lässt auf einfache Weise zu, Querverbindungen zu ziehen.

Kompetenz und enorme Kenntnis bereichern andere Fachgebiete, machen verständlich, warum Gerhardts Lieder nicht nur das kirchliche Singen bereicherten. Sie sind vielmehr ein besonderer Bestandteil des kulturellen Erbes. So ist das Buch, wenn in etlichen Teilen zunächst für Hymnologen gedacht, doch von großer Allgemeingültigkeit.

Ada Kadelbach: Paul Gerhardt im Blauen Engel, Narr Francke Attempto Verlag, 13. Februar 2017, 588 Seiten.

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTURBuchstabe und auf Amazon erhältlich.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

Kommentare  

# Ada KadelbachSchmidt C. (31.03.2017, 21:36)
Toller Artikel, danke! Das geistliche Lied (und damit Paul Gerhardt) ist ein wichtiges Kernstück jedes protestantischen Gottesdienstes. Und wer etwas über das Leben Paul Gerhardts weiß, spürt wie authentisch die Texte sind und welches Gottvertrauen sein Leben bestimmte. Wir haben vor kurzem seinen Geburtsort ca. 35 km von Leipzig entfernt besucht und haben uns dadurch aktuell mit seinem Leben beschäftigt. Macht weiter so!

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