Bildbände für den Gabentisch

Bei Aldi liegen die Lebkuchen und Spekulatius schon seit September im Regal. Jetzt Ende Oktober ist also Weihnachten nicht mehr weit. Zeit, sich Gedanken zu machen, was man seinen Liebsten unter den Weihnachtsbaum legt. Ich als alte Leseratte und Freund der Fotografie empfehle deshalb diesmal einen schönen Bildband oder ein schräges Reisebuch der besonderen Art.

Beginnen möchte ich meine Buch-Tipps mit einem Klassiker: Exodus von Sebastiao Salgado. Der brasilianische Ausnahme-Fotograf, der bereits durch seinen größten Fan, Wim Wenders, und seinen wunderbaren Dokumentarfilm gefeiert und geehrt wurde, war bereits seit 1993 für sieben Jahre um die Welt gereist, um seinen Bildband Migranten zu schaffen. Damit setzte er Flüchtlingen ein erschütterndes wie eindringliches Denkmal. Jetzt, gut 20 Jahre später, hat der Taschen-Verlag den gewaltigen Bildband erneut herausgebracht, denn die Thematik ist aktueller denn je.

Noch immer reisen entwurzelte Menschen in Viehwaggons oder maroden Booten, stranden in menschenfeindlicher Umgebung oder vegetieren in Slums am Rande von Großstädten. Das globale Thema Vertreibung, Flucht und Migration bestimmt die politische Diskussion, und das eben nicht erst seit dem Syrien-Krieg. Trotzdem ist das gewaltige Buch mit seinen erschütternden Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die oft schon über 20 Jahre alt sind, so aktuell und wichtig wie nie. Neueste Zahlen belegen, dass momentan 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. Ursachen wie Hunger, Naturkatastrophen, ethnische Vertreibung, Kriege oder einfach der Wunsch nach einem sicheren, besseren Leben sind die gleichen wie in den 90er Jahren. Sebastiao Salgado kennt das Leben als Migrant aus eigener Erfahrung. Schon als Kind zog er mit seinen Eltern in Brasilien vom Land in die Stadt, später siedelte er nach Europa über. Seine Fotos führen die globale Massivität der Wanderungsbewegungen und deren unerbittliche Härte schonungslos vor Augen.

Die grobkörnigen Schwarzweißbilder mit ihren harten Kontrasten sind dabei in vier Themenbereiche unterteilt:

Teil 1 zeigt die Wirrnisse der erzwungenen Reisen. Menschen in winzigen Booten, auf kaum fahrbereiten Lastwagen, in Viehwaggons, zu Fuß durch die Wüste und die Plätze, wo sie stranden – in menschenfeindlichen Lagern eingepfercht.
Teil 2 zeigt das Elend der Flüchtlinge in Afrika und hier vor allem die Folgen des Völkermordes in Ruanda.
Teil 3 beschäftigt sich mit Südamerika, der scharenweisen Landflucht und dem Chaos in den Slums und Favellas der ausufernden Großstädte.
Teil 4 führt schließlich nach Asien, wo hypermoderne Finanzquartiere gleich neben den Elendsquartieren der Geflüchteten in die Höhe schießen.

Salgado kämpft mit seinen Bildern um Menschlichkeit, Emphatie und Solidarität. Täglich ertrinken Menschen im Mittelmeer und wir dürfen unseren Blick nicht abwenden. „Alle Menschen im Exil und auf der Flucht“, betont Salgado, „verdienen unseren Respekt. Jeder ist ein unverzichtbarer Teil unserer Geschichte.“

Sebastiao Salgado: Exodus, Taschen-Verlag, Neuausgabe 2016, 432 Seiten, mit zahlreichen Fotos und Begleitheft. 49.90 Euro.

Meine beiden folgenden Fotobuch-Tipps stammen aus meinem Lieblings-Verlag, dem kleinen, aber feinen Mare-Verlag aus Hamburg. Mit seinem Monats-Magazin, seinen Büchern und Fotobänden, seinen Kalendern, aber besonders auch mit seinen Film-Reportagen aus der Welt der Meere und Menschen hat sich der Verlag auf höchster Ebene verdient gemacht. Für seine Reihe der Bildbände können immer wieder die besten Reise-Fotografen der Welt verpflichtet werden.

Genauso sieht es in den vorliegenden Foto-Büchern über Schottland und das Mittelmeer aus. Für das bereits im letzten Jahr erschienene Buch über das wilde und stark vom Meer geprägte Schottland waren der in Minsk geborene Dmitrij Leltschuk und der aus Verona stammende Sirio Magnabosco unterwegs. Während sich der Erstere hauptsächlich auf die Menschen mit all ihrer rauen und etwas abweisend wirkenden Ausstrahlung konzentriert hat, beschäftigt sich der zweite überwiegend mit der einmaligen Landschaft. Herausgekommen ist ein Fotobuch höchster ästhetischer Qualität ohne geschönte Landschaftsbilder oder gephotoshopte Urlaubsförderer, sondern eine gelungene Mischung aus einmaligen Kulissen, Fjorden, Burgen, Inseln, dem Hochland und dem immer gegenwärtigen Meer sowie Schottlands knorrigen, aber liebenswerten Einwohnern.

Dass dabei nicht immer strahlendes Wetter herrscht, sondern das meist typische nassgraue schottische Ganzjahreswetter, beeinflusst die Bilder eher positiv. Starke Kontraste, etwas reduzierte Farben und häufig der Blick in eine weite, karge, aber doch vielseitige Ferne sind ein fast schon sinnlicher Genuss. Dazu kommen ausdrucksstarke Porträts von windzerzausten Fischern, freundlichen Marktfrauen oder kreativen Eigenbrötlern. Dass die Fotos nicht beschriftet sind, sorgt dafür, dass das Auge nicht abgelenkt ist und man sich der ganzen Schönheit oder Intensität widmen kann. Im Anhang werden sie dann erklärt, was bei den Menschenporträts teilweise erst dann einen Sinn ergibt. Wie zum Beispiel bei dem Porträt von Steve Feltham, der seit 1991 in einem Wohnwagen am Loch Ness wohnt und als ausdauernster Nessie-Jäger sogar einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde bekommen hat. Gleiches gilt für den ursprünglich aus Prag stammenden Grafik-Disigner Lukas Pomahac, der bei der Restaurierung seines Schiffswracks förmlich zur eigenen Gallionsfigur mutiert.

Was fehlt, sind Bilder der größten Städte wie Edinburgh oder Glasgow, dafür gibt es aber Meer und elendes Wetter ohne Romantisierung, ehrliche raue Landschaft und würdevolle Menschen, deren Bodenständigkeit und Einsamkeit gewollt und ausgelebt erscheinen.

Bildband Schottland mit Fotos von Dimitrij Leltschuk und Sirio Magnabosco, Mare-Verlag 2015, 143 Seiten, 58 Euro.

Einen völlig anderen Ansatz hat der renommierte und 1962 in Berlin geborene Fotograf Mathias Bothor gewählt, als er vor 4 Jahren den Auftrag erhielt, einen Bildband über das Mittelmeer zu erstellen. Ein Meer, das man einerseits in viele Zahlen fassen kann, wie 4 Millionen Kubikmeter Wasserfläche, bis zu 1.430 Meter mittlere Tiefe, 24 Anrainerstaaten und cirka 200 Millionen Küstenbewohner, oder auch an seiner Aktualität als Totengrab für Flüchtlinge definieren könnte. Bothor sieht das Mittelmeer eher als einen gewachsenen, historischen Kulturraum mit Bewohnern, die diesen geprägt haben. Deshalb fotografiert er in erster Linie Menschen, porträtiert Männer, Frauen und Kinder an den Küsten rund ums Mittelmeer, das er dabei auf zahlreichen Reisen insgesamt verteilt über 4 Jahre ausgiebig bereist hat. Dazu erzählt er deren Geschichten, die als Kommentare neben den schwarzweißen oder farbigen Fotos stehen. Wobei die Texte viel Raum für eigene Fantasien und Gedankenspiele lassen, wenn man den häufig eher fröhlich dargestellten Menschen in die Gesichter schaut. Gelegentlich streut Mathias Bothor Landschaftsbilder dazwischen, meist aus erhöhten Positionen geschossen, um einen Überblick zu geben.

Eingeleitet wird der wunderbare, vielschichtige Bildband von einem Essay aus der Feder des Mittelmeerkenners und Weltenwanderers Joachim Satorius, der wie nur wenige das Meer und seine Menschen zu beschreiben vermag. Als Special liegt dem Buch eine große Übersichtskarte des Mittelmeeres mit seinen Anrainerstaaten bei. Außerdem kann der geneigte Leser bis Oktober 2017 einen exklusiv für Mare komponierten Soundtrack zu den Bildern von Mathias Bothor downloaden. Das Mittelmeer zum Hören, die Klänge der Mediterraneé wurden von dem Komponisten und Multiinstrumentalisten Thomas Moked Blum, der in Brasilien geboren wurde und seit seinem 6. Lebensjahr in Israel lebt, eingespielt. Blum, der sich Zeit seines Lebens mit der Volksmusik des Mittelmeeres beschäftigt, tourt mit seiner deutsch-israelischen Band Ensemble Baladino in aller Welt.

Bildband Mittelmeer mit Fotos von Mathias Bothor, Mare-Verlag 2016, 144 Seiten, 58 Euro.

Wer nach so vielen wunderbaren Bildern ferner Länder nun selbst auf die Idee kommt zu reisen, wenn auch nur in Gedanken, dem möchte ich noch ein besonders skurriles und witziges Reisebuch ans Herz legen: Dennis Gastmann: Atlas der unentdeckten Länder. Der aus dem NDR bekannte Journalist und Satiriker Dennis Gastmann (Autor für Extra 3) begann 2011, als Auslandsreporter um den Globus zu reisen. Heraus kamen Bücher wie Mit 80000 Fragen um die Welt oder Gang nach Canossa aus dem Jahre 2012. Zuletzt schrieb er 2014 über eine abenteuerliche Exkursion in die Welt der Reichen und Schönen, Geschlossene Gesellschaft.

In seinem neuesten Werk hat er sich aufgemacht, die unentdeckten Länder der Welt, die zwar nicht völlig unbekannt, aber meist vergessen, weit fern oder zumindest irgendwie magisch sind, zu bereisen. Dabei begibt er sich mit Charme, Hintersinn und oft bissigem Humor zu den Ausläufern unserer Zivilisation. Ein großes Abenteuer, eine einzigartige Reise und eine wunderbare Freude, ihn dabei als Leser zu begleiten.

Mit Wortwitz und Situationskomik beschreibt Gastmann seine an der Peripherie gelegenen Reiseziele und seine häufig skurrilen Bewohner. Man trifft Polizeispitzel in Taschkent, übergewichtige Tahitianer, genervte Palästinenser, hyperreiche Reise-Wahnsinnige, durchgeknallte Alkoholflaschensammler oder geschäftstüchtige Mönche vom heiligen Berg Athos. Wir Leser folgen dem Autor mit lachendem Auge in so absurde Gegenden wie Transnistrien, Ra´s al-Chaima, Karalkalpakstan oder Akhzivland. Oder träumen gemeinsam mit ihm von paradisieschen Stränden in der Südsee, gehen auf Tauchstation mit ihm in Palau, wo er seine Angst vor Haien erfolgreich bekämpft, und besuchen die letzten Nachkommen der Meuterer der Bounty auf Pitcairn Island.

Gastmann ist dabei ein brillanter Beobachter, gnadenloser Hinter-die Kulissen-Schauer und witziger Kommentator. Für uns Leser ist es die reine Freude und ein großes Glück, dass wir Gastmann bei seinen einzigartigen Abenteuerreisen begleiten dürfen. Lesen, Staunen und Lachen empfiehlt Holger Kistenmacher

Dennis Gastmann: Atlas der unentdeckten Länder, Rowohlt, Berlin 2016, 272 Seiten, 19,95 Euro.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen 
BuchfinkArno AdlerLangenkampmaKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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