Drei Lebensgeschichten als Lesestoff
Helge Timmerberg, Benjamin von Stuckrad-Barre und Patti Smith

Drogen, Musik, Reisen und das wilde Leben in den individuellen, persönlichen Ausformungen sind die Themen, die die drei neuen Autobiografien dieser sehr unterschiedlichen Autoren gemeinsam haben. Zeitgeschichte trifft auf Humor, Poesie auf Radikalität, Abenteuerlust auf Spiel mit dem Tod.

Der weit gereiste Journalist und Weltenbummler Helge Timmerberg hat nach diversen Büchern und Reportagen nun mit 63 Jahren seine Biografie vorgelegt, die vielleicht sogar sein persönlichstes Buch ist, obwohl eigentlich alle seine Romane hauptsächlich von ihm selbst und seinen abenteuerlichen Reisen handelten. Sex, Drugs und Journalismus bestimmten Jahrzehnte lang sein ausschweifendes Leben der Extreme. Im grauen Bielefeld geboren, haute er mit 17 Jahren das erste Mal nach Indien ab, ein Reiseland maximaler Farbpracht, um dem Grau zu entkommen. Beim Meditieren in Haridwar riet ihm eine Stimme, Journalist zu werden. Also ging er zurück nach Bielefeld, um bei der Neuen Westfälischen anzuheuern. Alltagsklatsch, Kaninchenzüchtervereine und lokale Berichterstattungen standen am Anfang seiner bunten Karriere als Schreiberling. Neun lange Jahre hält er es aus in dieser Stadt, die es nach einem alten Verschwörungswitz eigentlich gar nicht gibt. Hippieleben in Wohngemeinschaften, erste Joints und LSD-Trips sorgen für Abwechslung. Kiffen gehört bei ihm mit zum Schreiben, wie der ewige Kaffee bei vielen seiner Kollegen. Die Karriereleiter führt ihn durch diverse Redaktionen der Republik. Er versucht sich als Musiker, Besitzer des ersten vegetarischen Restaurants in seiner Heimatstadt und entdeckt die Faszination des sogenannten New Journalism aus den USA, wie sein großes Vorbild Hunter S. Thompson.

Über die Brauschweiger Nachrichten führt ihn sein journalistischer Weg nach Hamburg zum Stern oder nach Wien zu den angesagten Zeitgeist-Magazinen Wiener und Tempo. Seine durchgeknallten Reportagen aus aller Welt kommen gut an. Seine Gagen steigen und mit denen sein Selbstbewusstsein, seine Drogeneskapaden und seine gnadenlosen Berichte über die Reichen und Schönen dieser Welt. Er schreibt schillernde und so durchgeknallte Ich-Berichte über Drogen wie niemand vor oder nach ihm in Deutschland. Seine jeweiligen Auftraggeber hofieren ihn und fordern ihn auf: „Fahr einfach los, egal wohin, und bring uns Geschichten mit, egal worüber. Hauptsache, es knallt.“

Von der Anti-AKW-Bewegung, wo er zum Gründungsmitglied der Grünen wird, bis zum Klatschreporter, der sich um die Titten von Supermodels oder die neuesten Geliebten der angesagtesten Schauspieler kümmern muss. Timmerberg hat nichts ausgelassen. Auf seinen Reisen nimmt er auch Orte und Episoden in sich auf wie einer, der Rauschmittel konsumiert: ergebnisoffen, gierig nach Leben und Intensität, immer an der Grenze zum Kontrollverlust. Und dabei immer experimentierfreudig, sexsüchtig, humorvoll und gnadenlos. Wobei er aber auch immer überprüft, was das Ganze mit ihm selbst macht: Indien als Bewusstseinserweiterung, Kuba als Sinnesrausch, Israel als Horrortrip, weil in Tel Aviv mehrfach Bombenalarm hochgeht.

In seinen journalistischen Hochzeiten verdient er 60.000 Mark im Monat bei der Bunten, die er mit Prostituierten im Drogenrausch von Havanna verprasst. Die Sucht am Leben und seine Ausschweifungen führen über Marihuana, LSD zu Koks und Extasy. Vorbilder wie Hemingway werden zu gefährlichen Wegbegleitern, die sich aus Depression irgendwann selbst abballern. Was folgt, ist der gesundheitliche wie berufliche Absturz. Rauswurf bei der Bunten und bei Tempo: „Von positive drinking zu negative thinking“: Das Geld, das Koks, der Größenwahn, die Vertreibung aus dem Paradies, aber keines wog so schwer wie das Extasy.“ Das sogenannte Kinder-LSD, Barbies Party-Droge ohne Nebenwirkungen erweist sich bei Timmerberg als bizarre Fehleinschätzung, die ihm diverse Hirnzellen wegfrisst. Eben noch Machomann, der auf Kuba alles fickt, was bereitwillig ist, entpuppt er sich auf dem Hamburger Kiez zum Maschinentänzer in den Technotempeln. Filmriss, zusammenhanglose Erinnerungsblitze und ein Leben in Trance am Rande des Wahnsinns. „Ich ging als Profi in das Extasy hinein und kam als Penner wieder raus.“ Obwohl er diesen Satz gleich wieder revidiert, beschreibt er damit gnadenlos gegenüber sich selbst, wie tief so ein strahlender, vor Selbstüberschätzung strotzender Schreiberheld fallen kann.

Helge Timmerberg: Die rote Olivetti, Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaya, Piperverlag München, März 2016, 236 Seiten.

Der zweite Autor, den ich vorstellen möchte, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Benjamin von Stuckrad-Barre war der Rockstar der Popliteratur. 1998 schrieb er mit Soloalbum die Bibel der Popliteraturgeneration der neunziger Jahre. Dann stürzte er ab, wurde drogen- und esssüchtig. Jetzt ist er wieder zurück: Panikherz ist eine Autobiografie anhand von Songtiteln. Das Buch bedient all die Motive der Popliteratur, allerdings ohne die übliche Oberflächlichkeit. Sein jetziges Comeback als Mensch wie als Literat verdankt von Stuckrad-Barre dabei hauptsächlich Udo Lindenberg, der gerade jetzt, kurz vor seinem 70sten Geburtstag, auch in aller Munde ist.

Lindenberg und Stuckrad-Barre trafen sich erstmals, als jener noch als Autor für das Rolling Stone-Magazin schrieb. Stuckrad-Barre ist Fan und liebt Lindenberg. Er kommt ihm näher, hilft bei Songtexten und begleitet ihn bei Tourneen. Udo als väterlicher Freund, der ihn aus seiner größten Lebenskrise rettet. In Panikherz erzählt der Autor von so lustigen Begebenheiten, wie bei einer Passkontrolle in den USA, wo Lindenberg gänzlich unbekannt ist, trotzdem aber in seiner nuscheligen Art und mit Zigarre die Offiziellen mit seiner typischen lindenbergischen Coolness zur Weißglut bringt.

Von Stuckrad-Barre bekennt sich zu Lindenberg als sein Idol seiner Jugend als Pastorensohn im ökologisch-dogmatischen Umfeld. Es folgt der Bruch, als er selbst Karriere macht, als Modell arbeitet, von einer Talk-Show in die andere gereicht wird. Bucherfolg reiht sich an Bucherfolg. Er gebärdet sich selbst als Rockstar und narzisstischer Selbstdarsteller. Auf den Erfolg, der ihn in steile Höhen geführt hat, folgt der radikale Absturz in Drogeneskapaden, Fernsehskandale und Bulimie, bis nichts mehr geht. Seine Autobiografie ist eine Suchtbilanz und Selbstabrechnung. Gnadenlos beschreibt er sich als arroganter Narzisst, der durch Selbsthass, Bulimie und Drogensucht in der Klinik landet, was für ihn den Horrorort an sich darstellt.

Udo Lindenberg ist quasi der Sidekick des Erzählers in Panikherz, ohne den das Buch nicht möglich geworden wäre. Von Anfang an spielt Udo sowohl im Leben von Stuckrad-Barre als auch im Buch eine tragende Rolle, zunächst als Kinderheld, später als Freund und Retter. Udos Songtexte bieten Notfallstrategien, als gar nichts mehr geht.

Udo überredet den Autor, nach Los Angeles zu kommen, um das Buch zu schreiben. „Und so wurde das letzte Jahr zum schönsten jemals. L.A. wurde mein Arbeitszimmer, und ich merkte plötzlich, dass die Stadt sich für die Grundthemen des Romans perfekt eignete: Was wird aus Helden und Träumen, wenn man älter wird? Davon handelt die ganze Stadt, und davon handelt mein Buch.“

Neben Udo begleiten ihn natürlich noch diverse andere Helden durch sein Leben: The Bates, Oasis, Nirvana, The Beach Boys, Harald Schmidt, Jörg Fauser oder Rio Reiser, für den er auch schon mal zum Haschisch-Kurier wird. Er wird zum Jungen auf der Gästeliste. Der Mythos hinter dem Vorhang, im Backstage-Bereich wird zum Alltag und fördert Suchtverhalten und Größenwahn.

Panikherz ist ein langes, vielleicht zu langes Buch geworden, aber als Comeback für einen, der schon am Boden lag, lebens-, ja überlebenswichtig.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz, Kiepenheuer&Witsch, März 2016, 567 Seiten, 22,99 Euro.

Die dritte Biografie stammt von der gefeierten Musikerin, Punklegende, Dichterin und Künstlerin Patti Smith, die mit M Train den zweiten Teil ihrer Lebensgeschichte vorlegt. Mit Just Kids von 2010 hatte sie von ihrem Aufstieg aus behüteten Verhältnissen an der Seite ihres Freundes und Liebhabers Robert Mapplethorpe in New York als Dichterin, Performance-Künstlerin und Malerin berichtet, was ihr weltweiten Erfolg und Preise, wie den renommierten National Book Award, einbrachte.

Der zweite Teil ihrer Biografie nimmt den Leser mit in ihre Welt, umweht von Einsamkeit und Melancholie. Es ist ein Requiem für viele, die Patti Smith überlebt hat, geschrieben in Sätzen, unprätentiös und wirkungsvoll wie ihre Songtexte. Der Titel des Buches M Train bezieht sich dabei auf ihren früheren Wegbegleiter, den Dramatiker Sam Shepard, mit dem sie in den frühen 70er Jahren eine Affäre hatte. Er verließ sie kurz nach einem gemeinsam verfassten Theaterstück namens Cowboy mouth. In ihren Erinnerungen kehrt Sam Shepard zurück als „gutaussehender Cowboy" – eine Traumfigur und wiederkehrendes fiktives Gegenüber beim Nachdenken über den Schriftsteller und das Schreiben.

Das Buch beginnt in einem kleinen Café in Greenwich Village und führt unter anderem nach Mexiko, Französisch-Guyana, Japan oder Deutschland. Dabei versammelt Patti buchstäblich einen „Club der toten Dichter“, die ihr Leben beeinflusst haben. Sie verbeugt sich vor Michail Bulgakov, Bertolt Brecht, Jean Genet, Wittgenstein, Murakami oder Bolano. Sie reist um den halben Erdball, um die Gräber von Sylvia Plath, Bertolt Brecht oder das des Japaners Akutagawa Ryūnosuke zu besuchen.

Daneben nimmt sie den Leser fast beiläufig mit in ihre geliebten Cafés zu „Schwarzem Kaffee, Vollkorntoast und einer Schale Olivenöl zum Tunken“. Das ist Patti Smiths Frühstück, jeden Morgen im Café 'Ino im New Yorker West Village. Immer am selben Tisch in der Ecke beim Fenster, wo sie auf Servietten Gedanken festhält, manchmal ihre Kamera im Gepäck. Alltagsszenen, in denen jeder Augenblick steckt, voller Andeutungen, Träumereien, Sehnsüchte. Und alles, was Patti macht, dokumentiert sie mit ihrer Polaroid. Sie sammelt Erinnerungsstücke, wie die Spitzenschuhe von Margot Fonteyn, den Bürostuhl ihres Vaters, ihre Bienensocken, die alten Tintenfässer, das „Strandgut einer Schriftstellerin“. Der M Train erweist sich als „Mind Train“, ein Zug ihrer Gedanken, die häufig unabhängig von Zeit und Raum aus ihr hinaus wollen. „Als sei er eine lange Kette von Wörtern, die wie auf dem Schweif träger Wolken ostwärts ziehen.“

Neben den toten Dichtern und Schriftstellern, denen Patti Smith ihre Aufwartung macht, sind die Toten in der eigenen Familie die Protagonisten – allen voran Smiths Mann und Vater ihrer zwei Kinder, der Musiker Fred Sonic Smith, dem zuliebe sie New York auf dem Höhepunkt ihrer Karriere Ende der 70er Jahre verließ und viele Jahre in Michigan zurückgezogen lebte. Fred starb 1994 mit gerade mal 45 Jahren an Herzversagen. Viele Episoden, oder „Haltestellen“ im Buch, erinnern an die „Ära kleiner Freuden und mystischer Zeiten in Michigan“, wenn sie etwa mit Fred in einem see-untüchtigen Boot im Garten ihres Hauses sitzt, um Coltrane oder Beethoven zu lauschen. Patti teilt intimste Momente mit dem Leser: „Du warst zu lange weg“, schluchzt Patti Smith unvermittelt, in Tränen aufgelöst, bei einer Flugreise in sich hinein. Einsamkeit und Melancholie umwehen das Buch. Aber andererseits geht ihr auch nie der Humor verloren, ein rotziger Humor, dessentwegen man sich spätestens dann in Patti verlieben möchte. Als eine Tusse ihren Stammplatz im Café 'Ino wegschnappt, folgen ganze Absätze im Stil von: „Wenn dies eine Folge von Luther (Patti ist süchtige Anhängerin von Krimiserien im Fernsehen) wäre, würde man sie mit dem Gesicht nach oben im Schnee finden.“

Das ganze Buch ist geradezu schmerzhaft schön, bebildert mit vielen kleinen Fotos, die Patti Smiths Erinnerungen untermalen. Sie schafft einen einzigartigen Kosmos aus Poesie, Witz und Träumen, geschrieben wie ein Song über all die Verluste, die Zeit, Zufall und Umstände mit sich bringen. Ein Sog, dem man sich als Leser unmöglich entziehen kann.

Patti Smith: M Train, Kiepenheuer&Witsch, März 2016, Köln, 330 Seiten.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen 
BuchfinkArno AdlerLangenkampmaKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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