Der Luxus der Sinnfreiheit
Christo - Die schwimmenden Stege im Iseosee in Italien

Noch vor kurzer Zeit dürfte der Iseosee in Norditalien nur den besonders Eingeweihten bekannt gewesen sein. Das hat sich aber Mitte Juni 2016 schlagartig verändert, denn der weltberühmte „Verpackungskünstler“ Christo hatte sich angekündigt, den lauschig gelegenen Bergsee in Oberitalien für eine seiner grandiosen Kunstinstallationen zu nutzen. Sofort eilte die Nachricht über das neue Projekt des genialen Künstlers durch die Medien in die Kunstwelt und über den gesamten Globus.

Für 16 Tage sollten Besucher förmlich wie Jesus über das Wasser wandeln können. Dafür verwandelte Christo, der 1935 in Bulgarien geborene und heute in Amerika lebende Christo Javacheff, den idyllischen See in eine begehbare Land-Art-Skulptur. Wie bei allen seinen künstlerischen Arbeiten, die er gemeinsam mit seiner Frau, der Französin Jeanne-Claude, seit 1961 geplant und durchgeführt hat, firmieren er und sie als Kreativ-Duo, auch wenn Jeanne-Claude bereits bereits vor einigen Jahren verstorben ist.

Christo beim Aufbau der Floating PiersChristo beim Aufbau der Floating Piers

Im Gegensatz zu den meisten ihrer grandiosen Arbeiten, wie dem Running Fence, einer riesigen Stoffbahn quer durch Kalifornien von 1976, den Surrounded Islands in der Bucht vor Miami 1983, der umhüllten Pont Neuf in Paris 1985, den Regenschirmen in Japan und USA 1991, dem verhüllten Reichstag in Berlin 1995 oder den Goldenen Toren im New Yorker Central Park, um nur die wichtigsten zu nennen, bedurfte dieses Projekt in Italien keiner jahrelangen Vorplanung. In nur zwei Jahren konnte Christo die an den Iseosee angrenzende Gemeinde Sulzano, die Politiker, Umweltschützer und führenden Kulturfreunde davon überzeugen, dass hier genau der richtige Ort für diese Groß-Installation ist.

Also begannen bereits 2015 die ersten Pressekonferenzen, um das Projekt der Öffentlichkeit zu präsentieren. Mit Hilfe von 220.000 Polyester-Kuben, die im See umweltverträglich verankert wurden, entstand dann im Frühsommer ein über drei Kilometer langer Steg. Dieser wurde mit insgesamt 70.000 Quadratmetern gelbgold schimmerndem Stoff bezogen, der in Greven bei Münster produziert und vom Lübecker Unternehmen „Geo – Die Luftwerker“ vernäht wurde. So entstanden die Floating Piers, die die Stadt Sulzano mit den beiden im See liegenden Inseln Monte Isola und Isola de San Paolo, die man sonst nur per Boot erreichen konnte, verbinden.

"Geo – die Luftwerker" verarbeiten den Stoff"Geo – die Luftwerker" verarbeiten den Stoff

Diese wunderschöne kreative Arbeit, die Christo selbst als „Luxus der Sinnfreiheit“ bezeichnete, wurde am 18. Juni 2016 für die Öffentlichkeit freigegeben. Obwohl Christo und Jeanne-Claude immer wieder betont haben, sie würden ihre Projekte nur für sich selbst machen, keine kommerziellen Absichten hegen oder die Kunstwelt besonders beeindrucken wollen, sind ihre weltweiten Kunstwerken immer auch absolute Publikumsmagneten. Die ursprünglich angedachten 500.000 Besucher wurden mit über einer Million begeisterten Kunstfreunden in nur sechzehn Tagen weit übertroffen – und das bei freiem Eintritt.

Das besondere an der Kunst von Christo und Jeanne-Claude ist und war immer ihre völlige Unabhängigkeit. Nie haben sie Sponsoren- noch Steuergelder angenommen, sondern ihre Projekte immer vollständig aus eigener Kasse bezahlt und für jedermann frei zugängig gemacht. So hat das neueste Projekt etwa 15 Millionen Euro verschlungen, die Christo nur durch seine Zeichnungen, Grafiken, Fotos, Postkarten und Kataloge wieder einspielt. Leider ist diese wunderbare ästhetische Kunst für alle auch immer nur für ca. zwei Wochen zu bestaunen. Bereits nach 16 Tagen wurden die Piers wieder abgebaut und die Materialien für andere Zwecke verschenkt oder verteilt. Diejenigen, die das Glück hatten, die je nach Tageszeit, Lichteinfall oder Regenschauern gänzlich unterschiedlich schimmernden und schwankenden Stege ablaufen zu können, waren hellauf begeistert, wie die diversen Bilder und Videos im Internet belegen. Leider habe ich es, wie schon 1995 beim verpackten Reichstag, wieder nicht geschafft, selbst dabei zu sein.

The Floating Piers, Iseosee, ItalienThe Floating Piers, Iseosee, Italien

Aber für alle Daheimgebliebenen gibt es jetzt einen wunderbaren Katalog, den Christo wie immer mit seinem Freund, dem deutschen Fotografen Wolfgang Volz, mit dem er seit Jahren zusammenarbeitet, geschaffen hat. Darin wird die Geschichte der Floating Piers von der ersten Planung, über die Vorarbeiten – unter anderem ein geheimer Kleinversuch auf einem einsamen See in Schleswig-Holstein – und den Aufbau bis hin zur erfolgreichen Durchführung mit immensem Besucherandrang aus aller Welt dokumentiert. Wunderbare Bilder, kunstvolle Zeichnungen und die Dokumentation der Stoff- und Kubusproduktion sowie Texte in Englisch und Italienisch vervollständigen diesen 128-seitigen Band, der mal wieder in hervorragender Qualität von Fotos und Layout vom Kölner Taschen-Verlag aktuell aufgelegt wurde. Man muss sich also nicht grämen, diese Kunstsensation des Jahres verpasst zu haben, sondern kann jetzt in Ruhe das gesamte Projekt auf dem heimischen Sofa anschauen.

Nur das Gefühl, auf schwankenden Stegen wie weiland Jesus übers Wasser laufen zu können, kann auch dieses wunderbare Buch nicht ersetzen. Man darf also auf ein weiteres Großprojekt von Christo hoffen, wie zum Beispiel The Mastaba of Abu Dhabi oder Over the River, die Verhüllung des Arkansas-Flusses. Christo und Jeanne-Claude hatten dieses Projekt bereits vor Jahrzehnten gemeinsam begonnen, es konnte aber, wie auch The Mastaba of Abu Dhabi , bis heute noch nicht realisiert werden. Energie, Lust, Spass, Ideen, Willen und kreative Durchsetzungsfähigkeit hat dieser mittlerweile bereits 81-jährige Kunstverrückte hoffentlich noch für viele Jahre.

Christo and Jeanne-Claude. The Floating Piers: Taschen Verlag, 128 Seiten, Juni 2016

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen 
BuchfinkArno AdlerLangenkampmaKULaTUR und Buchstabe erhältlich.


Fotos: Wolgang Volz (c) Christo

 

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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