„Träum weiter“, Foto: Pluto Film

Gelungener Auftakt der 59. Nordischen Filmtage
Und das war nur der Beginn!

Jetzt sofort schlafen, das geht sowieso nicht. Also warum nicht mitten in der Nacht den überaus gelungenen Auftakt zu den 59. NFL noch einmal Revue passieren lassen?

Aus irgendeinem Grund lockte mich der Eröffnungsfilm „Träum' weiter“ von Rojda Sekersöz gar nicht so recht, und wie froh bin ich nun, ihn gesehen zu haben. Ausdrucksstarke Bilder von Anbeginn schaffen es, über anderthalb Stunden große Spannung aufrechtzuerhalten. Im Fokus die Geschichte der Hauptfigur Mirja (Evin Ahmad), die vor der Entscheidung steht, nach einem Gefängnisaufenthalt weiter mit ihren Freundinnen den Traum zu verfolgen, aus ihrem tristen Alltag nach Montevideo zu fliehen, wobei das nötige Kleingeld aus einem Überfall beschafft werden soll, oder sich um ihre schwerkranke Mutter und ihre kleine Schwester zu kümmern.

Das geht nur mit einem richtigen Job, und um den bemüht sich Mirja nach Kräften, aber unglückliche Umstände machen ihren Entschluss zunächst zunichte. Die Kameraführung sitzt den Protagonistinnen förmlich im Nacken bzw. lässt uns insbesondere Mirjas Mienenspiel im Großformat hautnah miterleben. Distanzierung wird unmöglich, wir sind permanent mitten im Geschehen, und das geht durchaus zu Herzen. Die Schauspielerinnen wirken dabei so überzeugend, als wäre hier eine Doku zu sehen. Bei aller Dramatik findet der Film noch ein versöhnliches Ende. Absolut empfehlenswert!

'Hobby Horsing Revolution', Foto: Tuffi Films'Hobby Horsing Revolution', Foto: Tuffi Films

Weiter geht es im Koki mit „Hobbyhorse Revolution“ einer finnischen Dokumentation von Selma Vilhunen über Hobby Horsing. Nie gehört? Tja, in Finnland gibt’s schon 10.000 begeisterte Anhängerinnen, Teenies zumeist, Tendenz länderübergreifend stark steigend. Es geht um Steckenpferde, die ihrem Namen im doppelten Sinn alle Ehre machen. Auf und mit ihnen wird nach allen Regeln der Kunst trainiert, um dann an Championships teilnehmen zu können. Dabei kommen selbstverständlich sämtliche Disziplinen wie Dressur- oder Springreiten, Pflicht- und Kürteile vor. Von den mit größter Liebe selbst genähten und mit Kissenfüllung bestückten Stoffpferdchen wird gesprochen wie von echten Tieren, sie werden erzogen, in Ställen gehalten, gestriegelt und es wird beurteilt, wie gut sie sich führen lassen, ob sie zu schwer oder zu leicht sind.

Ab und an wird gar eins aus Altersgründen im Schuhkarton bestattet. Die Mädels leben für ihr Hobby Horsing; es trägt therapeutische Züge(l). Hier finden sich Gleichgesinnte, aber jede Mitwirkende darf ihre Individualität ausloten, niemand wird schräg angeguckt wie teilweise in der Schule. Der Film begleitet und interviewt drei extrem unterschiedliche Gefährtinnen über einen längeren Zeitraum und lässt sie auch einzeln zu Wort kommen. Ein sehr liebenswertes Porträt! – Draußen vor der Tür führt eine Frau ein Hündchen spazieren, das eher einem Stofftier gleicht als einem lebendigen Geschöpf und einen kurzen Moment lang frage ich mich ernsthaft, warum die Frau es nicht an einem Stecken hält.

Das Koki ist nur schwach besetzt. Umso bedauerlicher ist es, dass einige Menschen ohne Eintrittskarte wieder weggeschickt werden müssen, da es für die NFL hier keine zu kaufen gibt. Ließe sich für solche Fälle nicht eine Sonderregelung finden? Und was lässt sich nur gegen die völlig ungenierten Dauerknisterer machen? Nicht nur im Koki vergeht kein Film mehr ohne die offenbar zur Gewohnheit gewordene Geräuschbelästigung. Es ist eine Unart! (Noch weiß ich nicht, dass ich zu Beginn des 4. Films das ohne Unterlass, selbst bei der Einführung vor sich hinbrummelnde Paar links von mir um Ruhe bitten muss, obwohl mir eigentlich schlichtweg die Worte dafür fehlen.)

Screwed, Foto: (c) Edition SalzgeberScrewed, Foto: (c) Edition Salzgeber

Im Gegensatz zum Koki wird es anschließend erfreulicherweise im Kino 1 richtig voll (während der Handtuchspender im Damen-WC jetzt schon leer ist – so schnell ging’s noch nie). Es ist aber noch ein wenig Zeit bis zum Beginn von „Screwed“, sozusagen ein Coming-of-Age und -Out-Film gleichzeitig und ebenfalls aus Finnland (Regie Nils-Erik Ekblom), Zeit also, den Blick ein wenig aufs Publikum zu richten. Von rechts blendet ganz enorm ein Handy-Lämpchen. Dort muss noch hektisch das Filmprogramm der nächsten Tage zusammengestellt werden. Beim Blick auf dieses Tun bemerke ich, dass ich von einer Frau zu meiner Rechten regelrecht fixiert werde, bis sie mich plötzlich fragt, ob in Hamburg nicht auch gerade das Filmfest läuft. Wohl kaum, aber sie bemerkt gleich weiter, dass diese Zeitgleichheit für viele sehr ungut sei. Dieses ganze Hin und Her! Sie selbst sei schon seit 1981 bei den NFL dabei und wäre es noch viel länger, wenn sie eher nach Deutschland gekommen wäre.

Es wäre ja auch was Schönes, gemeinsam alt zu werden, aber es wäre auch schrecklich, weil inzwischen so viele nicht mehr bei uns wären. Himmel, wem sagt sie das!? – und wird nicht müde, mich seltsam zu fixieren. Mir wird’s unheimlich. Ich atme auf, als sich jemand zwischen uns setzt und die Fixierung ein neues Opfer findet. Da sprintet plötzlich eine Dame vom NFL-Team herein und wirft einem noch stehenden Mann mit Baskenmütze ein seltsam wurstiges Gebilde zu, einer Rastafrisur nicht unähnlich. Der Mann fängt es dankbar auf und sagt den neben ihm Platzierten, das sei sein Schal. Wie denn das? Er dröselt daraufhin den Wust demonstrativ auf zu einer elend langen Schlange, die dann mit gezielten Windungen wieder zusammen- und um den Hals gelegt wird. „Jaha, und selbst gefilzt“, sagt der Mann nicht ohne Stolz und setzt sich und nimmt die Baskenmütze ab, und nun könnte man von hinten denken, da säße Herr Priol höchstpersönlich. Zu komisch!

Zurück zum Film: Das lässt sich kurz machen. Ich liebe diese skandinavischen Filme, die es schaffen, das Thema Homosexualität positiv in Szene zu setzen und die Lust auch mit Lustigkeit zu verbinden oder zu paaren, wie hier vielleicht das treffendere Wort wäre. Dies ist wieder ein Beispiel dafür, wie gut das gehen kann, aber ein Novum für Finnland. Zudem ist der Film witzig und steckt voller Überraschungen. Er kommt leicht daher, ohne flach zu sein, und besticht durch seine zwei überaus smarten Hauptdarsteller. Volltreffer!

Going West, Foto: (c) FilmBrosGoing West, Foto: (c) FilmBros

Zur Nacht gibt’s noch einen Wohlfühlfilm im Kolosseum (wenn denn endlich alle still sind): „Going West“ von Henrik Martin Dahlsbakken, Jahrgang 89 und bereits 2015 mit dem NDR Filmpreis für „Die Rückkehr“ ausgezeichnet. Nun erwartet uns eine sehr schräge Geschichte aus Norwegen. Ein junger Mann fährt zum Gedenken an seine verstorbene Mutter mit seinem Vater in einer Moto Guzzi zur abgelegenen, einsamen Insel Ona. Dort findet ein Quilt-Wettbewerb statt, für den die Mutter nominiert wurde. Ihr Werkstück wollen Vater und Sohn nun vor Ort präsentieren. Verbunden sind die beiden am Beginn der Reise nur durch ihre gemeinsame Trauer. Dass der Vater am liebsten in Frauenkleidern herumläuft, spielt keine kleine Rolle bei dieser Unternehmung, aber auch die Begegnungen und Erlebnisse unterwegs in diesem Roadmovie sind allesamt skurril, bringen die beiden Männer aber peu à peu einander näher. Leider läuft die Geschichte am Ende, wenn auch happy, aber doch etwas sang- und klanglos aus. Trotzdem als Spätkost sehr angenehm und gut verdaulich!

Wenn das alles erst der Anfang war, was mag dann noch kommen? Dieser Auftakt war bisher meine beste Ouvertüre, und als Pausen-Schmankerl gab’s „Kultasuklaa“, estnische Schokolade mit Meersalz und Suchtpotential. Mal sehen, was morgen die finnische Küche auf dem Klingenberg zu bieten hat.

Gerda Vorkamp
Gerda Vorkamp
Geboren 1958 in Herford, Lehramtsstudium, Angestellte im Fremdsprachendienst, freiberuflich tätig als Lektorin. Bei Unser Lübeck seit Beginn als Autorin und seit 2016 als Redakteurin dabei.

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