Susanne Birck und Sara Broos

58. Nordische Filmtage
„Reflexionen“ - Interview mit der schwedischen Filmemacherin Sara Broos

In der sehr emotional-persönlichen Dokumentation Reflexionen porträtiert die Schwedin Sara Broos ihre eigene Beziehung zu ihrer Mutter, die von Schweigen, Sprachlosigkeit, zugleich aber gegenseitiger Liebe geprägt ist. Dabei lässt die Filmemacherin ihre Zuschauer an der Intimität dieser komplexen Mutter-Tochter-Bindung teilhaben.

Ausgehend von dem Bedürfnis, ihrer Mutter nahe zu sein und mit ihr die wichtigen Fragen des Lebens zu erörtern, auch die familiär wichtigen, begleitet sie ihre Mutter über eine Zeit lang mit der Kamera. Diese Langfilm-Doku erhielt bereits viel Aufmerksamkeit und Anerkennung in Schweden und war auf mehreren internationalen Festivals zu sehen. Über das gegenseitige, neue Kennenlernen und grundsätzliche Fragen, die sie bei dem Entstehungsprozess ihres Films bewegten, erzählte die 38-jährige Schwedin in dem sehr intensiven, langen Gespräch, das wir während der Filmtage miteinander führten. Man konnte spüren, dass ihr die angerissenen Themen auf den Nägeln brennen.

Das Interview mit Sara Broos geben wir hier in nur leicht gekürzter Version wider.

Susanne Birck: Frau Broos, Sie haben uns einen sehr intensiven, sehr persönlichen Film auf diesen Filmtagen vorgestellt. Beim Sehen des Films fragte ich mich des Öfteren, warum Sie uns Zuschauer an diesem Ihrem Lebensabschnitt teilhaben lassen möchten.

Sara Broos: Der Ausgangspunkt meiner Idee zu diesem Film war, dass es so viel Material über meine Mutter gibt. Meine Mutter ist ja eine bildende Künstlerin, die in Schweden nicht unbekannt ist. Aber es gibt auch einige alte Filmaufnahmen aus unserer Familie. Ich habe mich gefragt – quasi als ein Leitthema für die Doku –, was passiert, wenn man zu vieles für sich behält, es niemandem mitteilt. Über Sorgen und Schmerzen einen Film zu machen, darum ging es mir in gewisser Weise. Hätte ich einen Spielfilm gemacht, hätte ich den gleichen Schwerpunkt gewählt.

S. Birck: Sich selber und die eigene Mutter in den Fokus zu stellen, birgt ja in gewisser Weise auch die Gefahr in sich, sich einer Öffentlichkeit zu sehr offenzulegen.

Filmszene aus Reflexionen (c) Broos FilmFilmszene aus Reflexionen (c) Broos Film

Sara Broos: Ja, aber es soll gar nicht nur um mich gehen, als ob ich mich selber darstellen möchte oder so. Ich als Person bin dabei gar nicht wichtig. Ich benutze meine Mutter, ihr Leben und mein Leben, um etwas auszudrücken. Es geht mir hier ja um das Vermitteln bestimmter Themen. Ich denke, je persönlicher ein solcher Film ist, desto eher kann ich andere damit erreichen. Wir sind uns doch alle so ähnlich.

S. Birck: Die Frage nach der Message eines Films stellt sich natürlich ganz besonders, wenn es sich um ein solch persönliches Werk handelt.

Sara Broos: Es sind ja doch mehrere Themen enthalten. Ich habe versucht, alles so weit geöffnet wie möglich zu halten. Also keine „Handlung“, sondern die Fragmente, aus denen sich das Leben eben zusammensetzt.

S. Birck: Welche Fragen werden dabei aufgeworfen?

Sara Broos: Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit diesem Film war: Was passiert mit einem, wenn man sich bestimmte Dinge nicht eingesteht, wenn man Erlebnisse verdrängt? Meine Eltern haben ein Kind verloren. Und nun, 20 Jahre später, als ich mit meiner Mutter darüber spreche, wird klar, dass sie es immer noch nicht verarbeitet hat, weil sie vielleicht das eigene Erleben nicht ernst genug genommen hat.

Eine andere wichtige Sache ist auch, dass wir uns immer danach sehnen, uns untereinander zu verstehen. Wer wir sind, woher wir kommen – je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie ich meiner Mutter ähnel. So vieles in mir ähnelt meiner Mutter, manchmal erschrecke ich darüber richtig.

S. Birck: Das Kennenlernen der Mutter als Basis für die Selbstreflexion?

Sara Broos: Ja, in gewisser Weise. Es ist auch ein Akt der Liebe, sich zusammenzusetzen und zu sagen: Ich liebe dich, ich möchte dich noch viel, viel besser kennenlernen.

Susanne Birck und Sara BroosSusanne Birck und Sara Broos

S. Birck: Mussten Sie Ihre Mutter überreden, an Ihrem Film mitzuwirken?

Sara Broos: Nein, überhaupt nicht. Sie meinte nur, ihr Leben sei ja nicht spannend genug für solch ein Projekt. Sie ist eher bescheiden und nicht so selbstbewusst.

S. Birck: Sie ist ja recht erfolgreich in ihrem Beruf als Malerin.

Sara Broos: Ja, aber bekannt oder berühmt zu sein, hat ja damit nichts zu tun, wie man sich fühlt. Ein Freund von mir, der Regisseur Malik Bendjelloul, gewann den Oscar für seinen Film Searching for Sugar Man. Alle dachten, er müsse doch jetzt glücklich sein, er hatte Erfolg, zog nach New York und so. Und ganz plötzlich, für uns ohne Vorwarnung, beging er Suizid. Er hatte doch vermeintlich alles, was man sich wünscht. Aber innen drin sah es bei ihm anders aus. Sich mit solchen Lebensthemen auseinanderzusetzen, das interessiert mich. Mehr über das Leben nachzudenken. Das, was uns ausmacht, sind eben oft auch die Tiefschläge. Man sollte davor keine Angst haben. Angst und Schmerzen gehören zum Leben dazu.

S. Birck: Ihr Film zeigt einen Ausschnitt der Konflikte zwischen Ihnen und Ihrer Mutter. Aber der Film bietet keine wirkliche Lösung der Diskrepanzen zwischen Ihnen an.

Sara Broos: Das stimmt. Ich wollte ein offenes Ende, das Möglichkeiten zulässt. Meine Mutter und ich sind uns nähergekommen. Ich vergleiche das gern mit dem Wissen, das man sich im Laufe des Lebens aneignet. Je mehr man liest und sich weiterbildet, desto mehr begreift man, wie wenig man doch letztlich weiß. Ich denke, dass es mit uns Menschen ähnlich ist: Wir sind uns doch immer ein Stück weit ein Mysterium, es wird doch immer etwas geben, was wir am Gegenüber nicht verstehen. Aber wir müssen ja auch nicht jede Ecke von uns zugänglich machen, manches sollte auch ganz bei einem selber bleiben. Ganz besonders zwischen Mutter und Tochter.

S. Birck: Es geht ja auch um den gegenseitigen Respekt, die Grenzen des anderen zu wahren.

Susanne Birck und Sara BroosSusanne Birck und Sara Broos

Sara Broos: Auf jeden Fall! Um meine eigene Integrität und die des anderen. Und dann kommt ja noch der Aspekt dazu, dass wir auch so viele verschiedene Charakterzüge in uns haben. Es ist doch gar nicht so einfach, den anderen zu definieren. Jeder Mensch hat so viele Facetten, die unterschiedlich zum Tragen kommen. Aber wenigstens können wir doch auf den anderen zugehen und sagen: Hey, ich bin neugierig auf dich, wer du wirklich bist! – ohne ein festes Bild vom anderen zu definieren. Ganz besonders bei den Menschen, die uns etwas bedeuten.

S. Birck: Sie beschäftigen sich nicht gerade mit den leichten Themen des Lebens …

Sara Broos: Mich beschäftigen so viele Gedanken. Als meine Großeltern starben, wurde mir plötzlich klar, welche Chancen ich vertan hatte. Immer wieder hatte ich den Besuch bei ihnen aufgeschoben. Und plötzlich waren sie nicht mehr da. Ich habe sie wenig gekannt, und nun ist eine ganze Welt mit ihnen verschwunden. Ich möchte nicht den gleichen Fehler mit meiner Mutter machen, dass ich mir mal den Vorwurf mache, mir keine Zeit für sie genommen zu haben.

S. Birck: Haben Sie sich mit Ihrer Mutter denn nun, nach dem Film, ausgesöhnt?

Sara Broos: Wir haben ja nie einen großen Konflikt gehabt! Also, wir verstehen uns schon ganz gut. Und doch ist trotz dieses Films immer noch so viel Schweigen da. Auch wenn man eine gute Beziehung zu jemandem hat, kann es immer noch so viel Einsamkeit in einem selber geben.

S. Birck: Wie geht Ihre Mutter mit Ihrem Film um?

Sara Broos: Oh, sie hat ihn schon mehrmals gesehen und sagt, sie entdeckt jedes Mal wieder etwas Neues.

S. Birck: Jetzt noch etwas anderes: In Ihrem Film zeigen Sie Aufnahmen von sich selber, während Sie sich auf Toilette übergeben. Das war ja keine gestellte Szene. So etwas offenzulegen wirkt auf mich beinahe wie eine persönliche Katharsis, bezogen auf Ihre Krankheit. Trifft das zu?

Sara BroosSara Broos

Sara Broos: Ich wollte einfach alles zeigen, auch das Schmutzige, Dunkle – die Realität eben, um ehrlich zu sein. Warum sollte man etwas beschönigen? Anorexie ist mit so viel Scham behaftet. Sich zu verstecken macht es nicht besser, hilft keinem. Ich finde es eben wichtig, die Realität zu zeigen, ungeschönt, hart, hässlich.

S. Birck: Zunächst wirkt es so, als ob Sie uns in dieser bestimmten Hässlichkeit stehen lassen möchten.

Sara Broos: Nein, so meinte ich das nicht. Um mit der Hässlichkeit, die ich in dem Film zeige, umgehen zu können, muss man sich damit direkt konfrontieren. Keine Angst davor – wenn man damit nicht direkt umgeht, wird man sich nie davon befreien können.

S. Birck: Geht es darum, es sich bewusster zu machen, dass es da ist?

Sara Broos: Dem Ganzen eine Sprache zu geben, trifft es eher: „So war es, das ist die Realität!“ Ich habe nichts mehr zu verheimlichen, ich möchte mich nicht mehr verstecken. Da möchte ich ganz ehrlich sein, sonst kann ich damit nicht umgehen lernen. In Schweden denken viele über mich, ja, sie hat es jetzt geschafft, ihr geht es so gut, so erfolgreich und so weiter. Aber es gab Zeiten, da habe ich mich richtig gehasst. Und es gibt so viele Menschen, denen es ähnlich geht.

Die größte Anerkennung mit diesem Film erhalte ich von einzelnen Menschen, die sich angesprochen fühlen, verstanden fühlen und die mir sagen, dass sie etwas in ihrem Leben ändern wollen, an den Beziehungen in ihren Familien. Mensch, geht einfach aufeinander zu! Redet miteinander! Vertragt euch! Irgendwann wird es mal zu spät sein. Seid ehrlicher zueinander, was kann es schaden? Diese ganze scheinbar positive Selbstdarstellerei, in den Social Media und so – das ist doch nicht echt!

Susanne Birck und Sara BroosSusanne Birck und Sara Broos

S. Birck: Sie betonen immer wieder die Bedeutsamkeit unserer Beziehungen. Woran fehlt es uns Ihrer Meinung nach denn in unseren Familien, in unserer Gesellschaft?

Sara Broos: Alles ist so schnelllebig, wir sind so gestresst. Wir leben irgendwie gar nicht mehr so in der Gegenwart. Immer auf der Suche nach etwas anderem, und manchmal vergessen wir das, was direkt vor uns ist. So war ich – unruhig, immer nach etwas suchend, unstet, auch was meine Beziehungen betraf. Immer noch eine Möglichkeit offen halten, sich nicht zu sehr festlegen – das ist der Zeitgeist. Alles scheint heutzutage möglich zu sein, und das macht es uns schwerer, uns auf etwas zu konzentrieren, sich einer Sache intensiver zu widmen. Das ist eben auch eine Message meines Films – sich der Gegenwart mehr zu stellen, mit offenem Blick. Wie mit den Augen eines Kindes. Im Film habe ich bewusst Kinder gezeigt. Kinder sind für mich die größte Inspiration, weil sie so unbefangen und neugierig auf die kleinsten Dinge des Lebens zugehen. Das haben wir irgendwie im Laufe des Erwachsenwerdens verloren.

S. Birck: Das sind jetzt doch mehrere Botschaften, die Ihr Film vermittelt.

Sara Broos: Ja, aber ich mach den Film ja nicht, um ein politisches Statement abzugeben. Ein Kunstwerk sollte auch für sich stehen können, ohne in allen Details Bedeutungen zu interpretieren. Ich finde einfach, dass es wichtig ist, sich um die eigene Familie zu kümmern, denn dort beginnt die eigene Verantwortung. Letztlich geht es aber um die Balance zwischen allem.

S. Birck: Solch einen Film zu machen beinhaltet die Gefahr, als Moralist rüberzukommen.

Sara Broos: Die Herausforderung besteht darin, einen Film zu machen, der für jeden eine individuelle Entscheidung offen hält. Ich möchte nicht verurteilen oder jemanden zu einer Meinung drängen. Jeder muss halt für sich selber entscheiden, auch, was er fühlen möchte.

S. Birck: Das ist das Spannende am Medium Film, dass man Ideen platzieren kann, ohne sie wortwörtlich zu benennen.

Susanne Birck und Sara BroosSusanne Birck und Sara Broos

Sara Broos: Ganz genau. Ich denke aber auch, dass wir sowieso etwas nicht wahrnehmen und verstehen, was wir nicht schon in uns haben. Dieser Film wird ganz unterschiedlich wahrgenommen. Manche können damit gar nichts anfangen, andere fühlen sich verstanden und stehen mir mit Tränen in den Augen gegenüber. Aus diesem Grund kann ich auch keine Lösung anbieten, daher endet der Film offen. Es gibt keine allgemeine Lösung für zwischenmenschliche Konflikte.

S. Birck: Am Ende des Films sagt die Frau im Hotel etwas über die Leere in einem, die nie gefüllt werden kann. Ist das die abschließende Desillusion?

Sara Broos: Ja, diese Leere … Darauf habe ich keine richtige Antwort. Wir alle fühlen ein Stück Leere in uns. Alles ist irgendwie ein Konstrukt, wir versuchen Dinge zu tun, die sinnvoll sind.

S. Birck: Als Suche nach Identität?

Sara Broos: Ja, schon. Ich finde einfach, wir sollten uns gegenseitig nicht für selbstverständlich halten. Wenn einem der andere etwas bedeutet, wenn man sich liebt, dann ist es doch etwas wert, sich um die Beziehung zu bemühen.

S. Birck: Was ist ihr nächstes Projekt?

Sara Broos: Ich führe ein Projekt weiter, das ich vor 20 Jahren als Teenager begonnen habe. Dafür reise ich im Balkan umher, Bosnien, Rumänien, Bulgarien und unterhalte mich mit unterschiedlichen Menschen über ihr Leben.

S. Birck: Frau Broos, ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren nächsten Film und bedanke mich sehr für dieses interessante Gespräch.

(Das Interview wurde während der 58. Nordischen Filmtage Lübeck im
Café Indigo geführt.)

Fotos: Elena Vogl

Reflexionen/Speglingar/Reflections
Dokumentarfilm, Schweden 2016
Regie: Sara Broos
Rollen: Karin Broos, Sara Broos


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